Staatsräson

Uwe Kalbe über Gaucks Rede zum Gedenken am Tag der NS-Opfer

  • Lesedauer: 2 Min.

Es gibt keine deutsche Identität ohne Auschwitz, formulierte der Bundespräsident am Dienstag, Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus. Wer wahrhaft leben wolle, müsse sich dessen bewusst sein. Gauck hat Recht. Identität verschafft man sich nicht, sie ist einem gegeben, man kann sich ihrer nicht entledigen, kann sie allenfalls leugnen. Wer das deutsche Staatswesen, wie es heute ist, betrachtet, sieht darin die Folgen vieler Schnitte, Einflüsse und - woran an einem solchen Tag zu erinnern ist - vieler Verbrechen. Auschwitz steht für ein besonders grässliches.

Doch »Nie wieder Auschwitz« ist nur die halbe Erkenntnis, zu der die Opfer jeden »die Wahrheit lebenden« Deutschen nötigen, und sie macht sogar blind ohne den anderen Teil des Satzes: »Nie wieder Krieg«. Es gibt keine deutsche Identität auch ohne Stalingrad, ohne Marzabotto in Italien und ohne das griechische Distomo. Es sind neben sechs Millionen Juden 20 Millionen Sowjetbürger zu betrauern, davon allein 3,3 Millionen getötete Kriegsgefangene. Es ist der fünf Millionen getöteten Polen zu gedenken. Es muss beunruhigen, dass Gedenken in Auschwitz ohne Russlands Präsidenten akzeptabel erscheint. Es ist an solch einem Tag Scham angebracht auch über die jahrelang verweigerte Rehabilitierung deutscher Deserteure oder die ignorierte Schuld gegenüber Sinti und Roma, Homosexuellen oder als Asoziale diffamierten Opfer. Würdiger Umgang mit diesen Zeugen deutscher Schuld verlangte, auch ihre Würde zum Bestandteil deutscher Staatsräson zu machen.

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