In meinem muslimischen Wagen
Martin Leidenfrost über den kleinen Nutzen der unmerklichen Unterschiede zwischen Serbisch und Bosnisch
Ich will keineswegs die Nachricht in die Welt setzen, dass Serbien eine weitere Zerschlagung bevorsteht, nachdem schon Jugoslawien auf sieben Zwerge geschrumpft wurde. Zwar gehen insbesondere in der multiethnischen Autonomie-Region Vojvodina böse Gerüchte um, dabei kann es sich aber um balkantypische Konspirationsschauder handeln.
Ein Bericht in der traditionsreichen Belgrader Tageszeitung »Politika« lässt mich jedoch aufmerken: Ein Muslim aus der serbischen Region Sandschak behauptet vor Gericht, kein Serbisch zu verstehen und besteht auf seinem Recht, einen Dolmetscher in der Muttersprache Bosnisch zu bekommen. Da sich Bosnisch und Serbisch so gut wie gar nicht unterscheiden, liest sich die Verhandlung wie ein absurdes Dramolett.
Hier das gekürzte Protokoll. Richter: »Ich kann Bosnisch, der Angeklagte kann sich also in seiner Muttersprache verteidigen.« Angeklagter: »Ich verstehe die Frage nicht.« Richter: »Aber eben haben Sie sich in fließendem Serbisch an mich gewendet!« Angeklagter: »Das ist nicht Serbisch.« Richter: »Beherrscht denn der Verteidiger die bosnische Sprache?« Verteidiger: »Nein.« Richter: »Wie konnten Sie dann die Verteidigung übernehmen?« Verteidiger: »Soviel verstehe ich.« Richter: »Kann das Verfahren auf Englisch geführt werden, da Sie beide erklärt haben, Englisch zu sprechen?« Angeklagter: »Das geht nicht.« Richter: »Wie konnten Sie diese Frage verstehen?« Angeklagter: »Der Verteidiger hat sie mir übersetzt.« Ich beschließe, den Angeklagten zu suchen.
In Sandschak - 430 000 Einwohner, die Hälfte muslimische Bosnjaken - fuhr ich schon letzten Winter herum. Mein golden schimmernder Mercedes 190, Baujahr 1992, hat auf dem Balkan viele Brüder. Mir fiel auf, dass es immer muslimische Orte sind, in denen ich beim Spazierengehen plötzlich zusammenzuckte - bin ich gaga, was macht mein Auto hier, ich hab doch ganz woanders geparkt! In der wuchernden Hauptstadt Novi Pazar fiel mir ein Gebäudetyp auf: mehrstöckige Wohnhäuser aus unverputzten roten Ziegeln, im Erdgeschoss ein bis zu fünf Meter hoher Saal mit Glasfront. Dieser Saal ist oft leer. Als würden sie erst einmal bauen und dann überlegen: Machen wir nun auch ein Geschäft mit Möbeln, Autozubehör oder Baumaterial auf? Bis dahin steht die Familienkarre in der Auslage.
Nun steuere ich meinen muslimischen Wagen wieder durch Sandschak. Wieder Muezzin, weiße Minarette, ein »Salam Aleikum« im Islamischen Institut. Eine Lokalzeitung nennt Novi Pazar »das Brüssel des Balkans«: »Die beiden Leader der Balkanmuslime, der bosnische Reis und der Mufti des Kosovo, konnten einander nur in Novi Pazar treffen.« Als Scharnier oder Riegel diente Sandschak immer wieder: 1878-1908 durfte Österreich-Ungarn in der noch osmanisch verwalteten Provinz Truppen stationieren - um eine Vereinigung Serbiens mit Montenegro zu verhindern.
In Dörfern wie Duga Poljana ist jedes zweite Haus ein Café. Dort gibt es nichts zu tun, als um frei stehende Öfen herum zu »kaffeedscherln«, das dafür auf bewusstseinserweiterndem Niveau. Ich möchte jauchzen vor Kolorit, sähe ich in den Kleinstädten Sandschaks nicht Beispiele eines anderen, nicht mehr europäischen Islams: vereinzelt junge Frauen im Stil der iranischen Provinz, junge Männer mit nahöstlichen Bärten. Ihr Anblick schnürt mir die Kehle zu.
Im hübschen Städtchen Prijepolje finde ich rasch das Haus des Angeklagten. Sein Vater, in Jugoslawien KP-Mitglied, ein ebenso eleganter wie geschäftstüchtiger Jugo-Nostalgiker, regiert ein mehrflügeliges Gebäude; zwei der vielen Sandschak-Parteien sind seine Mieter. Dann kommt der Sohn aus dem Café. Siehe da, der maskuline Hüne, keineswegs ein Moscheegänger, kann einwandfrei Serbisch. Als ich ihn nach einem typischen bosnischen Wort frage, muss ihm der Vater aushelfen, mit alten orientalischen Ausdrücken für »Wand« und »Teller«.
Der Sohn erzählt, es gehe zwar nur um maximal 30 Euro Strafe für ein Überholmanöver, aber man habe ihm mit Führerscheinentzug gedroht, und so sei er auf den Bosnisch-Trick gekommen: »Es gibt nämlich in ganz Serbien keinen beeideten Gerichtsdolmetscher Serbisch-Bosnisch.« Er muss nur noch bis März durchhalten, dann ist die Strafe verjährt. Er grinst. Und was will Sandschak, frage ich, Unabhängigkeit? Der Vater winkt ab. Der Sohn grinst wieder: »Autonomie brauche ich schon.«
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