Die Vergangenheit kehrt zurück
Interviews mit Ex-Untergrundkämpfern im Nordirlandkonflikt landen bei der Polizei
Die »Boston Tapes« sollten ein wissenschaftliches Projekt des Boston Colleges in den USA bleiben. Frühere irische Untergrundkämpfer beider Seiten waren zu ihrer Rolle im Nordirlandkonflikt befragt, die Antworten auf Tonbändern (»Tapes«) aufgezeichnet worden - unter der Voraussetzung, dass diese teilweise kompromittierenden Interviews erst nach ihrem Tod veröffentlicht und auch dann nur Wissenschaftlern und Journalisten zugängig gemacht werden. Doch nun hat die nordirische Polizei deutlich gemacht: Sie will die Aufzeichnungen anhören und auswerten. Das wiederum könnte zu Festnahmen in Nordirland führen und die politische Stabilität der gesamten Region gefährden.
2001 war das Projekt »Boston Tapes« gestartet worden. Es handelt sich dabei um ein Archiv an Interviews, in denen die Teilnehmer zur paramilitärischen Gewalt zwischen den Jahren 1969 und 1994 befragt wurden. Auf diesen Bändern sprechen Ex-Untergrundkämpfer, darunter ehemalige Kämpfer der nationalistischen Irisch-Republikanischen Armee (IRA) ebenso wie loyalistische Ulster Volunteer Force-Mitglieder über ihre Rolle während der Zeit der »Troubles«, wie die Bürgerkriegsperiode in Nordirland genannt wird.
Nur einmal ist es nordirischen Polizisten bislang gelungen, an die Bänder zu gelangen: im Zusammenhang mit dem Mord an Jean McConville, die 1972 von Mitgliedern der IRA abgeholt und getötet worden sein soll. Ihre Leiche war erst 2003 gefunden worden. Ende April vergangenen Jahres wurde im Rahmen der Ermittlungen um diesen Fall der Chef der IRA-nahen Sinn Fein-Partei, Gerry Adams, festgenommen. Einer der »Boston Tapes«-Interviewten, der Belfaster IRA-Kommandant Brendan Hughes, hatte unter anderem behauptet, Adams habe den Auftrag zur Tötung der 37-Jährigen gegeben. Der Sinn Fein-Vorsitzende, der stets bestritten hat, dass er überhaupt nur Mitglied der IRA war, wurde festgenommen, aber nicht angeklagt.
Und auch das Thema »Boston Tapes« wurde durch den Fall McConville wieder aktuell. Die nordirische Polizei bestätigte damals ihr Interesse, die mehr als 40 Bänder vollständig anzuhören und intensiv zu untersuchen, nicht nur die für den Mordfall McConville relevanten Interviews. Ed Moloney, jener irischstämmige Journalist, der verantwortlich für das »Boston Tapes«-Projekt zeichnet, hatte damals die US-Regierung gebeten, der Aufforderung der nordirischen Polizei nicht nachzukommen.
Inzwischen scheint die Polizei ihrem Ziel aber schon näher gekommen zu sein. Nordirischen Medienberichten zufolge liegen die Aufzeichnungen inzwischen bei den US-Behörden und könnten bald abgeholt werden. Bekannt wurde das in einer Verhandlung in Belfast. Ein ehemaliger Kämpfer der Terror-Gruppe Ulster Volunteer Force, Winston »Winkie« Rea, will verhindern, dass die Polizei Zugang zu seinen Aussagen erhält und kämpft nun vor Gericht darum, sein Interview zurückzubekommen. Ein Sprecher der nordirischen Polizei teilte den Medien mit: »Beamte der Abteilung Schwerverbrechen haben die Schritte eingeleitet, um alles Material, das Teil des Belfast-Projekts ist, zu erhalten.« Es sei die gesetzliche Pflicht der Polizei, alle schweren Straftaten umfassend zu untersuchen.
Angeblich hatten die nordirischen Polizisten vor, bereits am vergangenen Samstag in die Vereinigten Staaten zu fliegen, um die brisanten Bänder abzuholen. Reas Rechtsteam hatte daraufhin eine einstweilige Verfügung beantragt und erklärt, dass der Flug in die USA ohne konkreten Verdacht eher eine Fahrt ins Blaue sei. Diesen Donnerstag soll eine weitere Verhandlung in Belfast stattfinden, bei der geklärt werden soll, ob und wann die »Boston Tapes« der nordirischen Polizei übergeben werden könnten.
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