Vor Sonnenaufgang
Berlinale: Der Film »Victoria« von Sebastian Schipper
Was für eine Nacht für Victoria, die junge Spanierin in Berlin! Es beginnt wie ein endloses Amüsement in einem Berliner Techno-Club. Aber es endet anders.
Sebastian Schipper einen seltsam spleenigen Extremisten des Films zu nennen, ist gewiss nicht verkehrt. Das fiel bereits beim Regie-Debüt des heute siebenundvierzigjährigen Schauspielers auf (insgesamt drehte er bislang nur vier Filme), das er »Absolute Giganten« nannte und alles hatte, was Schippers Filme bis heute erkennbar macht: eine Jungmännergang und die Faszination für Autos und Rekorde. Auch in »Ein Freund von mir« (2006) mit Daniel Brühl und Jürgen Vogel ging es um das Auto einer speziellen Marke, deren kultige Besonderheit allerdings das Geheimnis von Schipper geblieben ist. Ins Guiness-Buch der Rekorde ging der Film ein: sechs Filmpremieren in fünf Städten absolvierte die Crew in zwölf Stunden. Ein seltsamer Ehrgeiz, der Schipper mit seinem Freund Tom Tykwer verbindet, der mit »Lola rennt« einen filmischen Prototyp schuf, dessen experimentelles Potential, wie es scheint, noch längst nicht ausgeschöpft ist. Dass Schipper jedoch nicht nur über Männer und Autos Filme machen kann, bewies er mit »Mitte Ende August« (2009), ein Liebes- und Einsamkeitsfilm, in dem endlich neben Milan Peschel auch eine Frau zum Zuge kommt: Marie Bäumer.
Das ist das Fundament, auf dem nun »Victoria« als erster deutscher Wettbewerbsbeitrag fast zweieinhalb Stunden lang steht - nein, tanzt, läuft, taumelt, fällt und wieder aufsteht. Und wieder sind es rekordverdächtige Ausgangsbedingungen, das muss so sein, wenn Schipper selbst von einer »hirnrissigen Idee« spricht. Das wahrhaft Verrückte: der ganze Film wurde in einem Stück gedreht, ohne nachträgliche Schnitte. Eine kaum vorstellbare Herausforderung für die szenische Logistik und die Kameraführung von Sturla Brandth Grovien. Zudem sind sämtliche Dialoge, wie Schipper versichert, komplett improvisiert. Drei Mal drehte man also in einem Zug den ganzen langen Film - und entschied sich hinterher für eine Fassung.
Kann daraus mehr als filmischer Leerlauf entstehen? Ja, es ist wundersam: Dieser Film ist wie ein eiskalter Rausch, ein einziger Sog, der seinen Rhythmus wie von selbst zu finden scheint. Ein weit in Regionen von Traum und Tod ausgreifender Mythos des neuen nächtlichen Berlin, ebenso schön wie gewaltsam!
In der ersten halben Stunde jedoch fürchtete ich, im falschen Film zu sitzen, noch dazu in einem überaus langen. Laia Costa, die junge überaus präsente spanische Schauspielerin, ist in dieser fast komplett englischsprachigen Geschichte jene Victoria, die mit Anfang zwanzig wie so viele Spanier ohne wirklichen Grund nach Berlin kommt und für vier Euro die Stunde in einem Café jobbt. Ihre Hoffnung, einmal Konzertpianistin zu werden, hat sie begraben, sie ist nicht gut genug dafür. Das haben ihr die Lehrer auf dem Konservatorium nach zehn Jahren Klavier-Exerzitien gesagt. Nun will sie sich in Berlin endlich einmal ausleben, Menschen kennenlernen und sich ohne festes Ziel durch die Tage bewegen. »Spaß haben«, nennt das eine ganze Generation.
Wir treffen sie in einem Technoclub, als sie gerade geht. Immer noch Solo, hat sie sich trotz Wodka und blau leuchtendem Dunst zu den hämmernden Rhythmen nur in einen niederen Grad von Ekstase hineingetanzt. Die anonyme Großstadt ist nicht tröstlich, aber sie sucht jetzt dringend männlichen Trost. Es ist vier Uhr morgens, eine nicht mehr ideale Zeit, nach Hause zu gehen, wenn man um sieben schon wieder hinterm Tresen eines Cafés steht. Aber daran will sie nicht denken, und so läuft sie den vier bereits stark alkoholisierten Jungmännern, die sich gerade an einem Auto zu schaffen machen, mit traumwandlerischer Sicherheit in die Arme.
Als Zuschauer möchte man Victoria in ihrer lebenshungrigen Naivität wie Rotkäppchen auf dem Gang durch den Wald zurufen: Hör nicht auf diese kleinkriminellen Wölfe, geh deiner Wege, ohne nach rechts und links zu schauen, wie das jeder lernt, der in einer Großstadt überleben will. Aber Victoria will jetzt vor allem eins: etwas erleben! Und das macht sie zur potenziellen Beute.
Und so zieht sie mit den vieren los, die Dialoge klingen nach Alkohol, man steigt aufs Dach eines Hochhauses - und siehe, die vier anfangs nicht sehr vertrauenswürdigen Jungmänner mit ihren noch weniger vertrauenswürdigen Namen - Sonne (Frederick Lau), Boxer (Franz Rogowski), Blinker (Burak Yigit) und Fuß (Max Mauff) - entpuppen sich als eher harmlose Jungen, die gern renommieren. Victoria mag Sonne, und bald schon machen die beiden mehr als bloß Sprüche, sie reden, sie verstehen einander. Es geht schon fast wieder die Sonne auf, da müssen die vier noch zu einer Verabredung, denn einer von ihnen ist jemandem, der ihn im Gefängnis (»ich bin aber kein schlechter Mensch«, beteuert er) beschützt hat, einen Gefallen schuldig. Doch sie sind zu betrunken, um noch mit dem - gestohlenen - Wagen zu fahren. Victoria lässt sich nicht lange bitten. Und plötzlich steckt sie mittendrin in der selbstläufigen Dynamik des Geschehens. Denn der Großkriminelle Andi (André M. Hennicke) hat einen ultimativen Tipp, wie sie die Schuld bezahlen können: eine Bank in der Nähe.
Plötzlich also fährt Victoria einen Fluchtwagen, wird von der Polizei gejagt. Dann sind sie tot, ihre Freunde für eine Nacht - und sie geht allein in den neuen Tag, als ob nichts gewesen wäre. Ein Thriller durchaus, zugleich aber auch ein Hohelied auf die Verführung und ein Klagegesang auf deren Opfer. Zudem ein kluger Essay über die Zeit, die rasende und die stillstehende. Eindrucksvoll.
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