»Wo sind all die Charlies?«

Emran Feroz über die ausbleibenden Reaktionen auf die ermordeten Muslime von Chapel Hill

  • Emran Feroz
  • Lesedauer: 4 Min.

Es ist ein merkwürdiges Gefühl, wenn man Facebook-Profile von Menschen sieht, die vor Kurzem ermordet wurden. Das Profil der 21-jährigen Yusor Mohammad Abu-Salha ist ein solches Profil. Am Dienstagabend wurden sie, ihr 23-jähriger Ehemann Deah Shaddy Barakat sowie ihre Schwester, die 19-jährige Razan, in der beschaulichen Universitätsstadt Chapel Hill im US-Bundesstaat North Carolina ermordet. Ein paar Stunden vor ihrer Ermordung hat Abu-Salha noch ein Hochzeitsfoto hochgeladen, auf dem sie mit ihrem Vater tanzt. Sie und Barakat hatten erst vor sechs Wochen geheiratet. Das Paar hat noch sein ganzes Leben vor sich.

Rund neun Stunden nach der Tat stellte sich der Täter, der 46-jährige Craig Stephen Hicks, der Polizei. Auch er hat ein Facebook-Profil, was viel über ihn aussagt. Dieses macht vor allem seinen extremen Hass gegenüber Religionen deutlich. Laut seinem Profil betrachtet sich Hicks als radikaler Atheist. Seine Opfer, die er kaltblütig per Kopfschuss hingerichtet hat, waren praktizierende Muslime. Zwei von ihnen, sowohl Yusor als auch Razan trugen ein islamisches Kopftuch, waren als solche erkennbar.

Das Echo der Medien ließ lange auf sich warten. Erst Stunden nach dem Massaker berichteten lokale Medien davon. Der muslimische Hintergrund der Opfer wurde anfangs völlig außer Acht gelassen, vom ideologischen Hintergrund des Täters ganz zu schweigen. Landesweite US-Medien zeigten anfangs keinerlei Interesse. Erst nachdem in sozialen Netzwerken immer mehr Menschen aufschrien und mit dem Hashtag #MuslimLivesMatter auf die Tat aufmerksam machten, wurde mehr und mehr berichtet. Hicks' radikales Gedankengut wurde jedoch weiterhin ausgeblendet. Stattdessen kamen einige Medien zum Schluss, dass ein Parkplatz-Streit der Auslöser gewesen sei.

Eine Version, die vom Vater der beiden ermordeten Mädchen wahrscheinlich zu Recht vehement bestritten wird. »Das war eine Hinrichtung, eine Kugel in jedem Kopf. Das war kein Parkplatz-Streit, sondern ein Hassverbrechen«, beteuerte er in einem Interview. Dieselbe Meinung vertritt auch der Rat für Amerikanisch-Islamische Beziehungen (CAIR): »Drei Muslime in Chapel Hill, North Carolina, wurden ermordet, weil sie Muslime waren.« Der amerikanisch-palästinensische Aktivist Remi Kanazi brachte es in einem Tweet folgendermaßen auf den Punkt: »Wenn ein Muslim ein Verbrechen begeht, müssen sich 1,6 Millarden Menschen kollektiv entschuldigen. Wenn ein Weißer drei Muslime exekutiert, kann man nicht einmal zugeben, dass es ein Hassverbrechen war.«

Währenddessen gab es auch seitens der Politik keine Reaktion. Obwohl das Weiße Haus nach derartigen Anschlägen, etwa nach der Schießerei von Kansas im April vergangenen Jahres, oft am selben Tag noch Stellungnahmen veröffentlicht, wartete man an diesem Tag vergeblich. Das mediale und politische Desinteresse war jedoch nicht nur in den USA groß. Während Anschläge wie das Charlie-Hebdo-Massaker im vergangenen Monat von zahlreichen Live-Tickern begleitet wurden, sahen sich viele deutsche Medien nicht dazu genötigt, über drei ermordete Muslime zu berichten.

Für die meisten Muslime sind Reaktionen wie diese nur eine weitere Bestätigung, dass muslimische Opfer nichts ins Schema des Mainstreams passen. Ein Muslim ist nur interessant, wenn er eine Waffe in der Hand hält, nicht wenn eine auf ihn gerichtet ist. Das ist nicht nur in Chapel Hill so, sondern auch im Jemen oder in Afghanistan. Dort werden ganze Hochzeitsgesellschaften anvisiert und in die Luft gejagt, während die Weltöffentlichkeit wegschaut und sich lieber dem IS oder Boko Haram widmet. Denn – so lautet wohl ein anderes ungeschriebenes Gesetz – wenn Muslime überhaupt getötet, gefoltert oder unterdrückt werden, dann doch nur von anderen Muslimen.

In diesem Fall ist jedoch klar: Der Täter ist ein weißer Atheist. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis er als geisteskrank, psychisch angeschlagen oder asozial dargestellt wird. »Terrorist« ist er natürlich nicht. Wo käme man denn hin, wenn dieses Wort, was hauptsächlich für den bärtigen, Allahu Akbar schreienden Ahmad, Mohammad oder Mustafa, reserviert ist, jedem zuteil werden würde? Ob Yusors Bilder eher die Runde gemacht hätten, wenn sie von einem solchen Mann getötet worden wäre? Womöglich ließe sich das Ganze dann noch als »Ehrenmord« verkaufen. Der wilde muslimische Mann, der Barbar, der Frauenunterdrücker aus dem Mittelalter, der noch nicht aufgeklärt wurde – einen solchen Täter hätte man sich wohl eher gewünscht. Gleichzeitig fragt man sich jedoch, ob bei manchen Medien à la Fox News und Co. Kopftuch tragende Musliminnen überhaupt als Opfer gelten. Ja, sind die denn überhaupt Menschen?

Wenn Charlie Hebdo ein Angriff auf die Meinungsfreiheit war, ist Chapel Hill dann keiner auf die Religionsfreiheit? Ist er denn nicht allgemein ein Angriff auf die Freiheit? Diese Phrase kennen die meisten nur allzu gut. Vor einem Monat druckte sie so gut wie jede Zeitung ab – weltweit. Doch heute schweigen sie alle, die ganzen Charlies.

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