Die Blutspur der Mörder
Deutschlands Verbrechen in Griechenland: Massaker, Hungermord und Raub. Von Karlen Vesper
Griechenvolk, Königsvolk, verzweifeltes Volk« dichtete Paul Éluard am 9. Dezember 1944, »Du hast nichts mehr zu verlieren als die Freiheit, als die Liebe zur Freiheit, zur Gerechtigkeit und die unendliche Achtung vor dir selbst.« Der französische Lyriker und Résistancekämpfer sah die noch frischen Spuren deutscher Mordorgien in Hellas, erblickte den »Tod ohne Mitleid«. Ergriffen besang er ein »verzweifeltes Volk, doch Volk der Heroen, Hungerleidervolk, hungrig nach seiner Heimat«.
Wenn von Wehrmachtsverbrechen in Griechenland die Rede ist, wird zumeist das Massaker von Distomo genannt, dem am 10. Juni 1944 (Tag des Mordens auch in Oradour) 218 Dorfbewohner zum Opfer fielen. Doch es gab viele weitere Orte, in denen Deutsche ein Blutbad anrichteten, deklariert als »Vergeltung« für Aktionen der Volksbefreiungsarmee ELAS. Zum Beispiel Kalavryta, eine Kleinstadt auf dem Peloponnes, wo am 13. Dezember 1943 die 117. Jäger-Division unter Generalmajor Le Suire 700 Einwohner ermordete. Ein schwer verletzt Überlebender erinnerte sich: »Als die Kirchenglocken läuteten, haben sie uns befohlen, uns alle in der Schule zu versammeln ... Und da fingen auch schon die Maschinengewehre an zu rattern. Als alles vorbei war, kamen zwei, drei Soldaten mit Pistolen, um jedem, der noch lebte, den Gnadenschuss zu geben, einem nach dem andern.«
Ein halbes Jahr zuvor, am 25. Juli 1943, waren 153 Männer, Frauen und Kinder in Mousiotitsas von einem Regiment der 1. Gebirgsjägerdivision unter dem Kommando des bayerischen Oberstleutnants Salminger niedergemetzelt worden. Am 16. August 1943 massakrierten die Gebirgsjäger in Kommeno 317 Menschen. Ein deutscher Tatbeteiligter gab später zu Protokoll: »Überall lagen Leichen herum. Vor und in den Häusern ... Soviel ich aus dem Menschenleiberwirrwarr ersehen konnte, dürften unter den Leichen viel mehr Frauen und Kinder gewesen sein, als Männer.« Am 3. Oktober 1943 überfiel die »Kampfgruppe Dodel« Lyngiádes und tötete 87 Dorfbewohner; Erbarmen gab es weder für den zwei Monate alten Säugling noch den 100-jährigen Greis. Die Schlächterei wurde als »Sühne« für den Tod des in eine Falle der Partisanen geratenen Salminger ausgegeben.
Als Bundespräsident Gauck im vergangenen Jahr Lyngiádes aufsuchte, bat er um Verzeihung - das war's dann aber auch. Kein Wort über ungesühnte Schuld, kein Wort zu den berechtigten Entschädigungsforderungen. Nicht minder schlimm: So manche Äußerungen deutscher Politiker heute an die Adresse Athens wecken böse Assoziationen. Im April 1943 meinte Reichsaußenminister Ribbentrop, man müsse »zu brutalen Maßnahmen greifen, wenn die Griechen sich überschätzen«. Und dass ihnen »mit eiserner Hand gezeigt werden müßte, wer der Herr im Lande« sei. Womit Hitlers Chefdiplomat einer Meinung mit Hitlers Generälen war. Eine Weisung des Oberkommandos der Wehrmacht ordnete an, dass deutsche Soldaten im widerständigen Griechenland »das Recht und die Pflicht haben, selbst gegen Frauen und Kinder alle Mittel einzusetzen«. Kein Deutscher sei »für Gewaltakte verantwortlich zu machen, weder in disziplinarischer noch in rechtlicher Hinsicht«. Daran hat man sich in der Bundesrepublik gehalten.
Der Historiker Hagen Fleischer zitierte in einem Aufsatz eine deutsche Liste, die für den Zeitraum vom Juni 1943 bis September 1944 allein 25 435 getötete Griechen summierte, pro Tag 91 Ermordete. Der Professor an der Universität Athen verwies sodann auf das ungewisse Schicksal der in gleicher Liste aufgeführten 25 728 griechischen Gefangenen, die zur Zwangsarbeit ins »Reich« deportiert worden sind und vielfach dort starben. Zehntausende Griechen erlitten gleiches Los in Konzentrationslagern. 60 000 griechische Juden verschlang die »Endlösung«. Hinzu kamen ungezählte Hungertote; allein im Winter 1941/42 waren es 300 000. Ob der desaströsen Versorgungslage im ausgeplünderten Land rafften Krankheiten und Seuchen Tausende hin. Der dreieinhalbjährigen deutschen Okkupation fielen über eine Million Griechen zum Opfer.
Griechenland stand zunächst nicht im Fokus der deutschen Welteroberer. Hitler überließ seinem Kumpanen Mussolini das Nachbarland. Der schickte seine Armee am 28. Oktober 1940 los, nachdem der griechische Diktator General Metaxas die Kapitulation abgelehnt hatte; dessen Antworttelegramm bestand aus nur einem Wort: »Ochi.« (Der »Nein-Tag« ist in Griechenland Nationalfeiertag.) Obwohl zahlenmäßig überlegen, scheiterte der »Blitzkrieg« der Italiener. Woraufhin die deutsche Wehrmacht am 6. April 1941 (»Unternehmen Marita«) zeitgleich in Jugoslawien und Griechenland einfiel.
Die Okkupationskosten, auf Hitlers Wunsch »Aufbaukosten« genannt, mussten die Griechen selbst aufbringen; von allen deutsch besetzten Ländern hatten sie pro Kopf die höchste finanzielle Last zu tragen. Außer dem 1942 der griechischen Notenbank abgepressten Zwangskredit von über 476 Millionen Reichsmark (der trotz damaliger vertraglicher Regelung bis heute nicht zurückgezahlt wurde), ließ die deutsche Okkupationsmacht fast die gesamte landwirtschaftliche und industrielle Produktion Griechenlands ausführen und bediente sich obendrein reichlich an den Rohstoffen. Die Spedition Schenker, Tochterunternehmen der Reichsbahn, ergaunerte sich das Monopol für den Transport der Beute; angesichts des profitablen Geschäfts seinerzeit sollte auch dieses Unternehmen heute zur (Reparations-)Kasse gebeten werden.
In seinem Offenen Brief an Gauck vom März 2014 zählte Manolis Glezos auf: »1770 Dörfer wurden in unserem Land niedergebrannt, mehr als 400 000 Wohnhäuser in Schutt und Asche gelegt ... Bombardierungen, Massenhinrichtungen, Hungertote, Opfer von Epidemien und der Rückgang der Geburtenrate bewirkten einen dramatischen Bevölkerungsrückgang von 13,7 Prozent. Demgegenüber betrug der Bevölkerungsverlust der Sowjetunion 10 Prozent, von Polen 8 Prozent und der von Jugoslawien 6 Prozent. Gleichzeitig erlitt Griechenland eine unsagbare ökonomische Katastrophe: das Land wurde restlos ausgeplündert und seiner Reichtümer beraubt. Archäologische Altertümer und Kunstschätze wurden gestohlen und ins Reich abtransportiert.« Der 94-jährige ehemalige Partisan fordert von Deutschland Reue - und zwar: »Aufrichtig und mit Taten!«
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