Ein Ende der Eiszeit macht noch keinen Frühling
Ein Beitrag von Dominic Heilig und Luise Neuhaus-Wartenberg zur Debatte um den Wahlsieg von SYRIZA und die Konsequenzen für die Linke in Deutschland
Es waren vorgezogene Neuwahlen in Athen – fast schon eine Normalität im politischen Griechenland seit dem Ausbruch der Wirtschafts- und Finanzkrise - an diesem denkwürdigen und bislang für die politische Linke in Europa einzigartigen 25. Januartag. Die linke Sammlungspartei SYRIZA verfehlte zwar denkbar knapp - um zwei Sitze - die parlamentarische absolute Mehrheit, konnte aber alle Vorwahlumfragen bestätigen und wurde mit über 36 Prozent der Stimmen zur stärksten Partei in Griechenland.
Die bislang regierenden und als Oligarchie im Land auftretenden Konservativen der Nea Dimokratia (ND) blieben sogar unterhalb der 30-Prozentmarke und mussten damit schließlich die Regierungsgeschäfte an SYRIZA abgeben. Ob sie aber tatsächlich auch die Macht im Lande abgegeben haben, werden die kommenden Monate zeigen. Pikant ist zudem: Über einen Erfolg der neuen Linksregierung wird längst nicht allein in Athen, sondern auch in Berlin und in Brüssel entschieden.
Was tun...
Tom Strohschneider und Horst Kahrs haben in ihrem bemerkenswerten Beitrag »Was tun« die Frage aufgemacht, ob und wie die Linke in Europa aus ihrer »Zuschauer-Solidarität« heraustreten könne. Sie schreiben: »Ein echter Bruch mit dem Merkel-Modell wird nur dann erfolgreich sein, wenn er nicht der Kanzlerin selbst überlassen wird (...)«.
Lutz Brangsch von der Rosa-Luxemburg-Stiftung antwortete in seinem Beitrag »Die eigenen Losungen ernst nehmen« prägnant: »Das Erzwingen eines Politikwechsels allein SYRIZA und eventuell PODEMOS aufzuladen, wird beide Projekte zum Scheitern bringen«.
Auch Moritz Warnke hat sich in die Debatte eingeschaltet und plädiert für eine »Terrainverschiebung, weg von der klassischen Logik parlamentarischer Repräsentation« und stellt dem entgegen, »dass gerade das Charakteristische des Aufbruchs in Südeuropa« nicht in der Fixierung auf die »parlamentarische Dimension«, sondern in der »Maulwurfsarbeit in den Platzbewegungen« zu suchen sei.
Zum ersten Mal in der Nachkriegsgeschichte regiert eine Partei links der Sozialdemokratie nicht als Anhängsel oder Mehrheitsbeschafferin in einem europäischen Land. Die Solidarität mit der neuen Athener Regierung unter Linken in Europa ist deshalb groß. Wann hat es das schon gegeben, dass Linke nicht gegen, sondern für eine Regierung auf den Straßen und Plätzen demonstrieren? Und das nicht nur in Athen, sondern auch in Berlin, Madrid, Brüssel, kurz: überall in den europäischen Zentren.
SYRIZA liefert dafür das Fundament. Vor wenigen Tagen stellte Regierungschef Tsipras seine politischen Vorhaben im Athener Parlament vor, reist samt seiner Minister seit seinem Wahlsieg von einem EU-Mitgliedsstaat zum nächsten, wirbt für einen Politikwechsel. Wenige Stunden nur nach der Regierungsbildung in Griechenland wurde die Privatisierung des Hafens von Piräus zurückgenommen, Mindestrente und die Mindestlöhne angehoben, entlassene Mitarbeiter des Öffentlichen Dienstes wieder eingestellt, die Polizei bei Demonstrationszügen »entwaffnet«. EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker dachte nach dem Rauswurf der Troika aus Griechenland sogar laut über eine Auflösung dieser nach, Italiens Regierungschef Renzi und Frankreichs Staatspräsident Hollande sympathisieren vorsichtig mit der neuen griechischen Politik und Österreichs Außenminister solidarisierte sich offen mit Athen.
80 Prozent der Griechinnen und Griechen stehen hinter den Maßnahmen der Regierung Tsipras und SYRIZA würde nach neuesten Umfragen über 40 Prozent bei Wahlen erzielen. Die Linke wirkt europaweit elektrisiert und hat die passenden Demospruchbänder und Plakate immer dabei. »Zuerst nehmen wir Athen, dann Madrid« heißt es da unter anderem. Oder »Wir sind in Griechenland gestartet«. Nur wohin führt der Weg und wird er von Dauer sein?
Diese Fragen bleiben unbeantwortet und damit auch die Frage, wie ein Politikwechsel in Europa gelingen kann.
Richtig ist, dass der Sieg SYRIZAs ein für die europäische Linke historischer ist. Die Linke sollte dies entsprechend feiern und als Signal, als eine einmalige Chance verstehen. Richtig ist weiter, dass die griechische Regierung ein unglaubliches und selten in Europa zu beobachtendes Tempo vorgelegt hat. Richtig ist auch, dass alle bisherigen Maßnahmen geeignet sind, den Menschen in Griechenland das Vertrauen in die Politik zurück zu geben, denn SYRIZA setzt bislang das um, was sie in ihrem Programm versprochen hatte. Glücklicherweise scheint auch der Einfluss des rechts-konservativen Koalitionspartners ANEL auf die Politik der Regierung mehr als nur beschränkt zu sein. Dies zeigt sich wohl am deutlichsten an der unmittelbaren Einbürgerung von Flüchtlingskindern und der Initiativen zur Öffnung der Ehe im orthodoxen Griechenland.
Viele in der deutschen LINKEN sprechen deshalb von einem »europäischen roten Frühling«. Doch: Ein Ende der Eiszeit bedeutet noch lange nicht, dass der Frühling gekommen ist. Denn Kanzlerin Merkel kann gar nicht anders, als gemeinsam mit ihrem Finanzminister Wolfgang Schäuble die Forderungen z.B. nach einem Schuldenschnitt für Griechenland strikt abzulehnen. Deutschlands Wort hat Gewicht in Europa. Ein Übergewicht, ohne Zweifel. Sollte Merkel Alexis Tsipras in zentralen Fragen entgegenkommen, würde sie ein ihrer bisherigen Politik entgegenstehendes Signal in die anderen Krisenländer, wie Spanien und Portugal aussenden. Daran aber haben weder Merkel noch die konservativen Kürzungsregierungen auf der iberischen Halbinsel ein Interesse. Wahlen stehen Ende des Jahres an, ein Kurswechsel käme zum jetzigen Zeitpunkt zu spät und wäre Wasser auf die Mühlen der Protestierenden.
Hindernisse auf dem Weg nach Madrid
Auch die Linke in Europa schaut nun gebannt von Athen nach Madrid. Dort führt seit einigen Monaten die Sammlungspartei PODEMOS die Umfragen deutlich an. Bereits heute wird von einer zweiten Linksregierung in Europa geträumt. Übersehen wird dabei aber, dass die SYRIZA viel näher stehende und in Aufbau und Auftreten vergleichbare Linkspartei Izquierda Unida (IU) nicht in gleichem Maße von einer Wechselstimmung unter der Bevölkerung profitiert. PODEMOS als Sammlungsbewegung ist darüber hinaus, anders als SYRIZA, eben nicht eine dezidiert linke Bewegung, kann und darf dies auch nicht sein, will sie die Mehrheit in Madrid im Dezember erringen.
Die meisten linken Solidaritätsadressen übersehen auch, dass bevor in Spanien ein Regierungswechsel eingeläutet werden könnte, im Nachbarland Portugal die Bürger an die Wahlurnen gerufen werden. Davon allerdings ist im Rest Europas unter der politischen Linken kaum etwas zu vernehmen. Fast scheint es, als fokussiere sich Solidarität nach dem Sieg von SYRIZA ausschließlich auf Sieger(typen) und weniger auf die »Sorgenkinder« in Europa. Dies aber kann zum Bumerang für die europäische Linke, auch für PODEMOS in Spanien werden. Die Wechselwirkung politischer Prozesse zwischen beiden Ländern ist nicht zu ignorieren.
Die Linke in Portugal ist tief gespalten, obwohl die Proteststimmung ob der jahrelangen Troika-Kürzungsdiktate mit der in Griechenland und Spanien vergleichbar ist.
Aufgrund der eigenen Schwäche und eines noch immer fehlenden Impulses die Kräfte zu bündeln, wird in Lissabon ein Politikwechsel nur anhand von Konstellationsdebatten und Koalitionsoptionen mit der sozialdemokratischen PS diskutiert. Eine Debatte, die der deutschen LINKEN nicht unbekannt sein dürfte. Soll man der Sozialdemokratie ein parlamentarisches Bündnis anbieten, um eine große Koalition mit den Konservativen zu verhindern? Möglich, aber gesellschaftliche Mehrheiten werden so nicht geschaffen. Eine Erkenntnis die auch in Deutschland reift.
Kahrs und Strohschneider entwickeln mit Blick auf Deutschland ein interessantes Gedankenspiel: »Im Bundestag gibt es eine Mehrheit von SPD, Linkspartei und Grünen. In allen Parteien wird mindestens eine Korrektur der auf reine Austerität setzenden Krisenpolitik befürwortet.« Statt aber, wie die beiden Autoren schreiben, einen Neuanfang zu starten und zumindest »die bestehende parlamentarische Mehrheit (...) für ein Minimalprogramm« zu nutzen, wird wieder in langweiligem Kanon mitgeteilt, warum man mit der Gabriel-SPD und Teilen der Grünen nicht könne oder umgekehrt aufgrund der Außenpolitik der LINKEN mit dieser Partei eine Zusammenarbeit scheitert.
Vielleicht wäre es, nach dem Sieg von SYRIZA, sinnvoll, wenn sich der Fokus der europäischen Linken statt auf Spanien nun auf Deutschland richten würde. Der LINKEN würde dies sicherlich helfen. Denn auch in ihr wird aktuell nicht debattiert, was denn nun nötig wäre, um der neuen griechischen Regierung, dem »roten europäischen Frühling«, praktische Solidarität zuteil werden zu lassen. Aktuell verharrt DIE LINKE immer noch in ihrer administrativ-solidarischen Diplomatie, - die sie selbst als Internationalismus bezeichnet - die sich dadurch auszeichnet, an »Merkel zu appellieren« und auf Schildern »Solidarität mit Griechenland« statt »Solidarität mit den GriechInnen« zu fordern. In Berlin bleibt man außenstehender Kommentator von Einzelentscheidungen und übernimmt nicht die Rolle des Aufklärers und Streiters für einen kontinentweiten Politikwechsel. Diese Rolle hatte schließlich Alexis Tsipras mit seinem »Offenen Brief« an die deutsche Bevölkerung hierzulande übernommen.
Politik als praktische Solidarität
Bislang gibt es keine neuen oder definierten Initiativen die zum Ziel haben, die Politik der Europäischen Union gegenüber den Krisenländern zu ändern. Zwar wird der Rausschmiss der Troika aus Griechenland bejubelt, konkrete Politik folgt daraus nicht. Wo bleibt die Initiative, die bisherigen Programme der Troika und die Zahlungsmodalitäten der verschiedenen Tranchen unter die demokratische Kontrolle der Menschen, z.B. über das Europäische Parlament zu stellen? Wo bleiben die Initiativen der LINKEN, angesichts der auch in Deutschland wieder kontroverser geführten Flüchtlingsdebatten, die eine sofortige Legalisierung von Flüchtlingen und die Einbürgerung von Minderjährigen Flüchtlingen vorsehen, so, wie es SYRIZA getan hat? Muss nicht gerade jetzt der Fokus auf eine Rentenerhöhung und die Schließung der Schlupflöcher beim Mindestlohn durch DIE LINKE in Deutschland erfolgen?
Praktische Solidarität besteht nicht in dem kommentieren der Athener Politik, sondern vielmehr darin, Themen im Gleichschritt aufzugreifen, weil sie auch für die Bevölkerung in Deutschland von existenzieller Bedeutung sind. Darüber würde die DIE LINKE auch dahin gelangen, sich mit den immer offensichtlicher zu Tage tretenden Demokratiedefiziten in diesem Land auseinanderzusetzen und dieses Thema nicht als Anhang der sozialen Frage zu bearbeiten. Ist es nicht so, dass auch hierzulande von einer Finanz- und Politikoligarchie gesprochen werden kann? Nicht einmal die Vereinigung der beiden deutschen Staaten vor 25 Jahren vermochte es, an der Ausgestaltung des politischen Systems, der politischen Beteiligungsrechte in diesem Land etwas zu ändern. Dieses Land funktioniert im Hinblick auf seine politische Repräsentanz noch immer wie in den 60er und 70er Jahren.
Auch in Bezug auf eine neue Europa- und Krisenpolitik ist mehr notwendig, als die Partei zurzeit leistet. Jetzt kann es sich rächen, dass die EU-Debatte nach dem Hamburger Parteitag 2014 so abrupt abgewürgt wurde. Im Vergleich: Tsipras und seine Mannschaft führen keinen griechischen, nationalen politischen Diskurs. Es ist ein europäischer. Wir haben augenscheinlich in der deutschen LINKEN noch nicht verstanden, dass es sich bei der Parlamentswahl in Athen um die erste europaweite Wahl überhaupt in der Geschichte der Europäischen Union (EU) handelte. Die Frage, die Europa mit der Wahl in Griechenland verband war, ob es dort gelingen würde, einen Bruch mit der als alternativlos bezeichneten Kürzungspolitik zu organisieren, oder nicht.
DIE LINKE nicht aus dem Blick verlieren
Schließlich aber könnte sich DIE LINKE aus ihrer »Zuschauer-Solidarität« herausarbeiten, wenn sie es den griechischen GenossInnen gleich täte und sich von der Angst einer stetigen Modernisierung und Öffnung befreien würde. Jan Korte (MdB) hat sich vor kurzem in einem Strategiepapier für eine sogenannte Mandatserweiterung der LINKEN, die Ansprache neuer Milieus, ausgesprochen.
Leider ist darüber keine tiefgreifende Debatte innerhalb unserer Partei entstanden. Diese aber ist nicht nur wahlarithmetisch dringend notwendig. Es geht mithin um die Zukunft der Partei. Ein Diskurs über eine Milieuerweiterung hätte auch zur Folge, den leider viel zu früh abgeschlossenen Prozess der Neuaufstellung der Partei mit der Fusion von Linkspartei.PDS und WASG um weitere Partner in der Republik neu anzustoßen.
Für einen Richtungs- und Politikwechsel in Europa ist mehr denn je notwendig, die Große Koalition hierzulande mit konkreter Politik in Bedrängnis zu bringen. Zumindest im Hinblick auf die parlamentarische Seite hat DIE LINKE hier einiges an Möglichkeiten. Zu schnell trat aber in den Hintergrund, dass wir mit Bodo Ramelow und seiner rot-rot-grünen Koalition in Thüringen zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik eine linksgeführte Landesregierung vorweisen können. Es muss nun wieder darum gehen, die Politik, die in Erfurt auch mit Signalwirkung für den Bund gestaltet wird, solidarisch und fern jeder Zuschauerhaltung zu unterstützen und aufklärerisch bekannt zu machen. In Brandenburg sind soeben die ersten 100 Tage der Neuauflage von rot-rot unter Beteiligung der LINKEN abgelaufen und deren veröffentlichte Bilanz hat in der Partei kaum jemand zur Kenntnis genommen oder diskutiert. Damit lässt man die Brandenburger GenossInnen allein zurück. Sie aber benötigen den Partei- und Gesellschaftsdiskurs, wie Thüringen, nicht zuletzt um im Bündnis mit der Sozialdemokratie eigene Inhalte durchsetzen und ein neues Denken anstrengen zu können.
Es wird also höchste Zeit, sich wieder mit der Politik vor Ort zu befassen und diese für einen Politikwechsel in Deutschland und damit in Europa - wie gegenüber Griechenland - zu organisieren. Das eine also tun, ohne das andere zu lassen. Und wann, so das Resultat der griechischen Wahlen, standen die Möglichkeiten der LINKEN für tiefgreifende Veränderungen besser, als jetzt.
Luise Neuhaus-Wartenberg (MdL) und Dominic Heilig sind BundessprecherInnen des »forum demokratischer sozialismus« (fds). Neuhaus-Wartenberg hat lange in Griechenland gelebt und ist Kennerin des politischen Diskurses vor Ort. Dominic Heilig schreibt seit Jahren zur Entwicklung der europäischen Linken. Vor kurzem ist von ihm ein Ausblick auf die Parlamentswahlen in Portugal nach dem Wahlsieg von SYRIZA erschienen.
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