Perfekt organisiertes Schweigen

Ob Ausmaß und System westdeutschen Dopings bekannt werden, entscheidet sich am Dienstag

  • Jörg Mebus, Köln
  • Lesedauer: 4 Min.
Am Dienstag fällt in Stuttgart möglicherweise die Entscheidung, ob die ganze Wahrheit über die westdeutsche Dopingvergangenheit ans Licht kommt - oder auch nicht.

Die 60 Aktenordner, um die sich am Dienstag alles dreht, sind möglicherweise der Schlüssel zur Aufklärung der dunkelsten Kapitel westdeutscher Dopinggeschichte. Letizia Paoli ist sich jedenfalls sicher, dass sie Material von »dopinghistorisch einzigartiger Bedeutung« enthalten. Am Dienstag kämpft die Kriminologie-Professorin und Mafiaexpertin in ihrer Funktion als Vorsitzende der Evaluierungskommission, die Licht ins Dunkel der Dopingvergangenheit der Freiburger Albert-Ludwigs-Universität bringen soll, um die Freigabe der Ordner zur Untersuchung. Ihre Auftraggeber von der Uni wollen dies offenbar mit aller Macht verhindern.

Paoli jedenfalls hat vor dem Treffen mit der Uni-Leitung und Baden-Württembergs Wissenschaftsministerin Theresia Bauer (Grüne) in Stuttgart alle diplomatische Zurückhaltung aufgegeben. »Leider mussten wir in der Vergangenheit den Eindruck gewinnen, dass die Universität nicht an einer umfassenden Aufklärung interessiert ist«, sagte Paoli. Ihre Forderung, die Posten von drei ausgeschiedenen Kommissionsmitgliedern mit den Dopingexperten Perikles Simon, Fritz Sörgel und Hans Hoppeler neu zu besetzen, um die Arbeit fertigstellen zu können, lehnen die Uni-Bosse ab. Sie wollen ihre eigene, nicht unabhängige Kommission einsetzen.

2009 deckte eine andere Freiburger Kommission das systematische Doping im Team Telekom auf, organisiert von den Uni-Ärzten Lothar Heinrich und Andreas Schmid. Schlüsselfiguren der Freiburger Geschichte sind Joseph Keul und Armin Klümper, jene Mediziner, die vom Breisgau aus als Verbands- und Olympiaärzte jahrzehntelang gewaltigen Einfluss auf den deutschen Sport ausübten. Ihre Verstrickung in zahlreiche Dopingfälle ist verbrieft. Tiefere Recherchen gestalten sich für Paoli aber schwierig. Details aus den Ermittlungen der »kleinen« Telekom-Kommission etwa sind für die »große« tabu - wegen Datenschutzbedenken.

Dennoch schwappte schon viel Schmutz an die Oberfläche. Diskuswerfer Alwin Wagner, selbst geständiger Dopingsünder, belastete schon im vergangenen Jahrtausend, aber auch kürzlich wieder die Freiburger Topmediziner schwer. »Ich habe acht Jahre lang Dopingmittel bekommen, verschrieben von Armin Klümper. Häufig sogar auf Blanko-Rezepten.« Weder Klümper noch Keul, der ihn internistisch betreut hat, hätten ihn vor gesundheitlichen Risiken gewarnt. Mittel der Wahl waren damals anabole Steroide, aber Keul besaß auch Pioniergeist. Vier Jahre vor seinem Tod gründete er gemeinsam mit dem Freiburger Onkologen Roland Mertelsmann das noch heute in Freiburg ansässige Biopharma-Unternehmen CellGenix, das beste Kontakte zum US-Pharmariesen Amgen unterhält. Amgen stellte 1985 als erstes künstlich ein menschliches Hormon her, das gezielt die Bildung roter Blutzellen anregt: Epo. Die Uni wiederum ist an CellGenix beteiligt. Diese und zahlreiche weitere Seilschaften recherchierte unter anderem die Journalistin Grit Hartmann in ihrem Deutschlandfunk-Beitrag »Breisgauer Einzelfälle«. Darin wird ein Lobbygeflecht zwischen Wirtschaft, Medizin und Politik aufgezeigt, das nicht nur Paoli Kopfzerbrechen bereitet.

»Ich erlebe hier, dass die Dopingszene exzellent organisiert ist, dass es gelingt, das Schweigen perfekt zu organisieren«, sagte auch Oberstaatsanwalt Christoph Frank, der gegen Klümper und später auch im Telekom-Fall ermittelte. Zahlreiche Akten aus den ominösen 60 Ordnern stammen aus Verfahren gegen Klümper. Im Jahr 2000, 13 Jahre nach dem bis heute nicht aufgeklärten Tod der von Klümper betreuten Siebenkämpferin Birgit Dressel, wanderte der heute 79-Jährige nach Südafrika aus. Staatsanwalt Frank stellte 2012 die letzten Untersuchungen ein.

Nicht nur Sportler und Sportfunktionäre unterstützten Freiburger Mediziner wie den Kumpeltypen Klümper, der in seiner Karriere Tausende Kaderathleten bis hin zu Fußball-Weltmeistern betreute. Auch Politiker hielten die Hand über Freiburg. Vor der Wende, im Klassenkampf mit der DDR, tolerierten und ignorierten sie im Sinne des sportlichen Erfolgs, was das Zeug hielt. Am 21. Oktober 1976 etwa sprach Gerhard Groß, Ministerialrat von Innenminister Werner Maihofer, bei einer Einweihungsfeier in Freiburg zum »lieben Herrn Professor Keul«: »Wenn keine Gefährdung oder Schädigung der Gesundheit der Athleten herbeigeführt wird, halten Sie leistungsfördernde Mittel für vertretbar. Der Bundesminister des Inneren teilt Ihre Auffassung.« 2014 wurde bekannt, dass das Innenministerium von 1980 bis 1996 Klümpers »Sporttraumatologische Ambulanz« mit 1,23 Millionen Mark ohne Zweckbindung unterstützt hat. Und die Sportbosse? Auch sie schauten weg, die Dopingstudie belastete sogar Übervater Willi Daume. Dem 1996 verstorbenen NOK-Präsidenten habe Keul sogar »Interna zur Anabolika-Praxis« zukommen lassen.

Die heutige Führung des Deutschen Olympischen Sportbundes fordert mit Blick auf Freiburg gerne Aufklärung. Wie groß ihr Interesse daran wirklich ist, ist fraglich. Immerhin würde ein veritabler Dopingskandal gewaltigen Schaden anrichten - möglicherweise auch an der angestrebten Olympiabewerbung. Der Inhalt von 60 Aktenordnern könnte einige Fragen beantworten - oder auch nicht. SID

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