Im Rausch der Farben
Einmal im Jahr, zum Holi-Fest, werden in Indien die Kasten-Schranken aufgehoben.
Keine Ahnung, was die Männer an diesem Nachmittag machen. Nur Frauen und Kinder sind auf dem Dorfplatz von Alsisar zu sehen. Und die haben alle Hände voll zu tun, schichten Unmengen von getrocknetem Kuhdung zu einem riesigen Haufen auf. Zum Sonnenuntergang soll er in Flammen aufgehen. Dann beginnt auch in diesem kleinen Dorf in Rajasthan das Frühlingsfest Holi und wird für die nächsten Tage Alt und Jung in einen Ausnahmezustand versetzen.
Jedes Jahr im März, wenn der Vollmond den Wechsel vom Winter zum Frühling ankündigt, wird Holi gefeiert. Es ist eines der ältesten Feste Indiens, und es ist mit Abstand das farbenprächtigste. Es beginnt mit einem abendlichen Freudenfeuer, um die Luft von bösen Geistern und allem Schlechten zu reinigen. Symbolisch wird die Dämonin Holika verbrannt, die dem Fest den Namen gab. Um sie ranken sich viele Legenden, eine der bekanntesten ist diese: Als der kindliche Prinz Prahlada sich immer wieder weigerte, seinen Vater, den eingebildeten König, als Gott zu verehren, war der so erbost darüber, dass er das Kind mit verschiedenen Mitteln zu töten versuchte. Doch der Junge blieb am Leben und verehrte weiterhin nur Gott Vishnu, der dafür jeden neuerlichen Mordanschlag auf Prahladas Leben vereitelte. Schließlich griff der König zu einer fiesen List: Seine Schwester Holika, die durch besondere Kräfte vor Flammen geschützt war, sollte mit dem Knaben auf dem Schoß ins Feuer springen, wo er verbrennen würde. Doch auch diesmal griff Vishnu mit göttlicher Hand ein - das Kind wurde gerettet, Holika verlohr ihre Zauberkräfte und verbrannte.
Die Moral von der Geschicht und eine der wichtigsten Bedeutungen des Holi-Festes ist deshalb: Das Gute wird letztlich immer über das Böse siegen. Außerdem soll es dabei helfen, alte Streitigkeiten zu begraben, soziale Gräben zu überwinden und verlorene Freundschaften zu erneuern. Natürlich tritt all das Gute nur dann ein, wenn man das Fest gebührend feiert. Was man keinem Inder zweimal sagen muss, sie sind für jede Feier zu haben. Je ausgelassener, desto besser!
Deshalb hält es am Abend vor Vollmond auch in Alsisar keinen mehr im Haus. In ihren schönsten Kleidern treffen sich alle auf dem Dorfplatz und warten darauf, dass das Feuer endlich entzündet wird: Die alten Männer, die schon lange palavernd und Tee trinkend auf einem Teppich sitzen, Frauen und Kinder, die einen Kreis um die Feuerstelle bilden, und die jungen Männer, die die Wartezeit mit temperamentvollen Tänzen unter ohrenbetäubendem Lärm der Trommeln überbrücken. Als die Sonne untergeht, entzündet der Dorfälteste den mit einer Strohpuppe gekrönten Haufen, und von Jubelgesängen begleitet, beginnen die jungen Frauen, die in diesem Jahr heiraten werden, in ihren roten Hochzeitskleidern anmutig um das Feuer zu tanzen. Je weiter sich die Flammen der Strohpuppe - also Holika - nähern, desto temperamentvoller und lauter werden die Rufe und Gesänge. Bis nur noch ein Häufchen Asche übrig ist. Für die Frauen und Kinder ist es nun an der Zeit, nach Hause zu gehen, die Männer indes haben noch eine wichtige Pflicht zu erfüllen. Sie müssen eine Schaufel mit Glut vom Freudenfeuer in ihr Haus tragen, um damit dort die bösen Geister auszuräuchern.
So beeindruckend und farbenprächtig das abendliche Fest auch ist, richtig bunt wird’s erst am nächsten Tag. Das soll man übrigens unbedingt wörtlich nehmen und jegliche Kleidungsstücke, die man gern noch länger tragen möchte, tunlichst im Schrank lassen. Denn jeder, ob Einheimischer oder Tourist, wird schon nach kürzester Zeit aussehen, als sei er in einen Farbtopf gefallen.
Schon Wochen zuvor bestimmten Berge aus buntem Farbpulver das Bild auf den Märkten. Säckeweise haben die Einheimischen es nach Hause getragen, es segnen lassen und sich wie kleine Kinder auf Holi gefreut. Schon in den frühen Morgenstunden ziehen die Einheimischen singend von Tür zu Tür, wünschen sich gegenseitig »Happy Holi« und bekräftigen die guten Wünsche mit ein paar Händen voll Farben, die den so Beschenkten von Kopf bis Fuß einpudern. Der lässt sich nicht lumpen und bedankt sich auf die gleiche Art. Zusätzlich bespritzen sich Kinder wie Erwachsene mit gefärbtem Wasser. Die Farbe macht alle gleich. Jeder umarmt jeden, jeder feiert mit jedem, alle Unterschiede zwischen Kasten, Religionen oder Herkunft sind an diesem einen Tag im Jahr aufgehoben, verschwinden ebenso unter einer dicken Schicht Farbe wie die Grenzen zwischen den sozialen Schichten, zwischen Jung und Alt, Arm und Reich. So gesehen ist Holi auch das große Fest der Sehnsucht nach einer Welt, in der keiner ausgegrenzt wird. Wohl wissend, dass am nächsten Tag, wenn die Farben wieder abgewaschen sind, alles wieder wie vorher ist.
Doch daran mag an dem Festtag niemand denken, es wird gefeiert bis in die späte Nacht. Dabei lässt man auch so manches durchgehen, was ansonsten verboten ist. Insbesondere die Männer berauschen sich nicht nur an den Farben, sondern auch mit dem ansonsten streng verpönten Alkohol und mit Bhang, einem Gemisch aus Joghurt und Cannabis. Entsprechend groß ist am nächsten Tag der Katzenjammer. Und während am Morgen die Frauen versuchen, von ihrem Nachwuchs die hartnäckige und zum Teil gesundheitsschädliche Farbe abzuwaschen, schlafen die Männer ihren Rausch aus. Alles ist wieder beim Alten - alle Unterschiede werden wieder sicht- und spürbar. Bis zum nächsten Jahr, wenn der Vollmond im März den Frühling ankündigt.
Übrigens hat Holi längst seinen Weg aus Indien in die Welt gefunden: Erstmals feierte im Juli 2012 Berlin ein Holi Festival of Colours. Inzwischen schwelgen alljährlich weltweit Menschen im Rausch der Farben. Neben dem großen Spaßeffekt scheint dafür ganz offensichtlich fernab jeder religiösen Bedeutung die Sehnsucht nach Gleichheit, Freiheit, Brüderlichkeit Pate zu stehen.
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