Jagt die Strippenzieher des Rechtsrucks vom Hofe!
Für Jens Berger hat Rot-Rot-Grün nur eine Chance, wenn sich die Grünen auf ihre alten Tugenden berufen
Die grüne Basis muckt auf und das ist auch gut so. In einem offenen Brief warnen mehr als 400 Parteimitglieder den Bundesvorstand und die Fraktionsführung der Grünen vor einer Fortsetzung des eingeschlagenen Rechtskurses. Anstatt Juniorpartner der CDU im Wartestand zu sein, soll die Partei sich vor allem sozial- und friedenspolitisch auf ihre Wurzeln berufen. Der Brief endet mit einem indirekten Aufruf an alle Abgeordnete der Grünen, die diese Kritik teilen, sich bemerkbar zu machen und offen für einen Kurswechsel zu werben. Dieser Brandbrief war überfällig und wichtig.
An was denken Sie als erstes, wenn Sie auf die jüngere Parteipolitik der Grünen angesprochen werden? Die offensive Verteidigung der Hartz-Gesetze durch Katrin Göring-Eckardt? Die militaristischen Äußerungen zum Bürgerkrieg in der Ukraine von Marieluise Beck? Wie man es auch dreht und wendet - die Grünen des Jahres 2015 haben mit den früheren Grünen, bei denen eine gerechte Sozialpolitik und eine kompromisslose Friedenspolitik stets ganz weit oben auf der Agenda standen, zumindest in der öffentlichen Wahrnehmung nichts mehr zu tun. Klar ist aber auch, dass die öffentliche Wahrnehmung einer jeden Partei kaum etwas mit der Parteibasis zu tun hat. Es sind die Spitzenpolitiker der Parteien, die diese Wahrnehmung kreieren, und es soll ja in den besten Parteien vorkommen, dass es eine große Diskrepanz zwischen den Positionen der Basis und denen der Spitze gibt.
Schon immer gab es bei den Grünen den Konflikt zwischen Realpolitikern und Linken. Nur scheint es so, als hätten erstere diesen Richtungsstreit gewonnen und letztere sich in Luft aufgelöst. Mehr und mehr wirkt die Partei so, als habe ein konservativer Postmaterialismus die alten Ideale längst weggeweht. In Hessen koalieren die Grünen mit den Christdemokraten, deren dortiger Landesverband wohl der konservativste ist, was die CDU zu bieten hat. Winfried Kretschmann regiert das Ländle mit einer derart bräsigen grün getünchten Selbstgefälligkeit, dass man denken könnte, die CDU habe die Grünen gekapert. Nimmt man die eingangs zitierten Äußerungen grüner Spitzenpolitiker hinzu, muss man als Mensch, dessen Herz auf der linken Seite schlägt, diese Partei wohl abschreiben. Doch das wäre ein grandioser Fehler!
Viel wurde bereits über die Option einer rot-rot-grünen Bundesregierung debattiert. Dabei wird meist der vermeintlich große Spalt zwischen SPD und Linkspartei als größtes Hindernis gesehen. Doch das ist falsch. Oder können Sie sich vorstellen, dass rechte Grüne mit der Linkspartei kompatibel sein könnten? Marieluise Beck Seit’ an Seit’ mit Sahra Wagenknecht? Wohl kaum. Wenn Rot-Rot-Grün jemals eine Option sein kann, dann geht dies nur, wenn die Grünen sich auf ihre alten Tugenden berufen und die Strippenzieher des Rechtsrucks vom Hofe jagen. Dafür muss die Partei jedoch zunächst einmal aufwachen und erkennen, was schief läuft. Ansonsten ist der Weg der Grünen programmiert - als Juniorpartner der CDU, dem mit ein paar Kompromissen bei der Umwelt- und Gleichstellungspolitik jede konservative Schweinerei abgerungen wird. Denn eins steht fest - in Sachen Realpolitik macht den Grünen niemand was vor. Niemand ist so biegsam wie sie, wenn es darum geht, seinen Platz am Futtertrog zu behalten.
Diese schwarz-grüne Dystopie kann nur dann verhindert werden, wenn die Grünen ihren Rechtskurs revidieren. Dies ist jedoch nur dann möglich, wenn die Partei sich komplett neu aufstellt. Dafür ist es notwendig, dass der linke Flügel sich neu organisiert und sich eine Stimme verschafft. Der jüngst veröffentlichte offene Brief der linken Parteibasis kann dazu nur der erste Schritt sein. Nun müssen grüne Mandatsträger, deren Herz (noch) auf der linken Seite schlägt, das Angebot der Basis annehmen und den Kampf um die Deutungshoheit grüner Politik beginnen. Raus aus den Schützengräben, liebe Grüne!
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