Schweigen ist kein Verzicht
Geheim gehaltene Dokumente untermauern Athens Ansprüche wegen NS-Verbrechen
»Griechenland hat zu keinem Zeitpunkt völkerrechtlich wirksam auf Reparationen verzichtet. Die ehemaligen Kriegsgegner haben nun die Möglichkeit, ihre Forderungen geltend zu machen«, sagte der Völkerrechtler Andreas Fischer-Lescano der ARD-Sendung »Kontraste«. Damit widerspricht der Bremer Rechtsprofessor anlässlich der wiederaufgeflammten Debatte um Wiedergutmachungszahlungen für NS-Unrecht jüngsten Abweisungen aus dem Kabinett von Angela Merkel.
Die Bundesregierung hatte bisher argumentiert, dass Athen die Forderung seit langem nicht mehr offiziell geltend gemacht habe. Zwar hatten die Vorgängerinnen der SYRIZA-geführten Regierung offenbar aus politischer Rücksicht Entschädigungszahlungen nicht juristisch verfolgt, aber immer wieder verbal untermauert. So forderte der griechische Staatspräsident Karolos Papoulias im vergangenen März beim Besuch von Bundespräsident Joachim Gauck in Athen, es müssten so schnell wie möglich Verhandlungen über Reparationen und die Rückzahlung einer von den Nazis erhobenen Zwangsanleihe aufgenommen werden.
Im Februar 2014 hatte das Bundesfinanzministerium auf Anfrage der Linksfraktion erklärt: »Ein formeller, endgültiger Verzicht der griechischen Regierung auf die Geltendmachung von Reparationsforderungen ist der Bundesregierung nicht bekannt.« Im Januar dieses Jahres behauptete die Bundesregierung laut dem ZDF, dass es keine Forderung seitens der griechischen Regierung gebe. Juristen des Bundestages hatten auch in als vertraulich deklarierten Gutachten darauf verwiesen, dass es bei der Beurteilung möglicher Ansprüche aus Athen von Bedeutung sei, ob eine griechische Regierung »konkludent verzichtet« habe, was voraussetze, »dass Griechenland im Hinblick auf die Geltendmachung des Anspruches untätig war«.
Das ist offenbar nicht der Fall, wie ein Dokument bestätigt, das das ZDF vorgelegt hat: eine Verbalnote aus dem November 1995. Darin macht die griechische Botschaft in Berlin gegenüber dem Auswärtigen Amt unmissverständlich deutlich, dass Athen »nicht auf seine Ansprüche auf Entschädigungen und Reparationen für während des Zweiten Weltkrieges erlittene Schäden verzichtet« habe. »Die politischen und völkerrechtsvertraglichen Gründe sind bekannt, die die Entscheidung über dieses wichtige Problem verzögert haben. Die griechische Regierung ist aber jetzt fest davon überzeugt, dass die Zeit zur Bewältigung dieses Problems und zur Ausarbeitung einer von beiden Seiten akzeptablen Lösung reif ist.«
In einem der Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestags, die dem »nd« vorliegen, heißt es zur Frage der »Dauer des Stillschweigens«, es könne in dem Fall der griechischen Reparationen allerdings »dem schlichten Umstand ein besonderes Gewicht zukommen, dass der potentielle Gläubigerstaat seine Reparationsforderungen selbst 68 Jahre nach Kriegsende (...) noch nicht in einem förmlichen völkerrechtlichen Verfahren geltend gemacht hat«. Athen hätte offiziell der Interpretation widersprechen müssen, dass durch den Zwei-plus-Vier-Vertrag die Frage der Reparationen abgeschlossen sei, und zwar hätte dies »in einem förmlichen diplomatischen Verfahren zur Kenntnis gebracht« werden müssen - was offenbar durch die Verbalnote von 1995 geschehen ist.
Die ARD-Sendung »Kontraste« verweist auch auf ein Urteil des Bundesgerichtshofes aus dem Jahr 2003, nach dem die Auffassung der Bundesregierung, sämtliche Reparationsforderungen seien mit dem Zwei-plus-Vier-Vertrag zur Wiederherstellung der Einheit Deutschlands obsolet geworden, nicht zutreffend sei. Außerdem stellte das Gericht fest, dass das Londoner Schuldenabkommen - in dem die ehemaligen Kriegsgegner 1953 vereinbarten, dass die Verhandlungen über deutsche Kriegsschulden bis zur Einheit Deutschlands zurückgestellt würden - »durch die abschließende Regelung im Zusammenhang mit der Wiedervereinigung Deutschlands als Moratorium gegenstandslos geworden« sei. Dies bedeutet, dass die ehemaligen Kriegsgegner nun die Möglichkeit hätten, ihre Forderungen geltend zu machen.
Zu den Reparationsforderungen Athens liegt in Griechenland bereits seit einem Jahr eine Studie vor, die allerdings als streng geheim eingestuft ist. Die Athener Zeitung »To Vima« hatte sie am vergangenen Sonntag veröffentlicht. Die Gesamtforderungen werden darin in einer Höhe zwischen 269 und 332 Milliarden Euro beziffert. Auf dieser Grundlage prüft der Oberste griechische Gerichtshof zurzeit, wie mögliche Reparationsforderungen an Deutschland erhoben werden können. Justizminister Nikos Paraskevopoulos hat bereits offen mit der Pfändung deutscher Immobilien in Griechenland gedroht.
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