Ein übermächtiger Gegner
Der Londoner Julian Cheyne kämpft bis heute gegen die Folgen von Olympia in seiner Stadt
Siebzehn Tage Glamour, siebzehn Tage feuchtfröhlicher Ausnahmezustand. Das ist die offizielle Bilanz der Olympischen Sommerspiele 2012 in London. Für Julian Cheyne bedeutete das Sportereignis mehr als zehn Jahre Ausnahmezustand, ganz ohne Glamour. Verlust der Wohnung, Trennung von seinem Umfeld, jahrelanger Kampf - das ist seine Olympiabilanz. Clays Lane, sein Viertel im Ostlondoner Bezirk Stratford, war dem IOC im Weg. »Sie kamen und sagten uns, sie hätten Pläne für dieses Gebiet.« Das war 2003. Bis 2007 mussten 450 Menschen ihre Wohnungen in Clays Lane verlassen. Große Teile von Stratford fielen dem Olympischen Dorf zum Opfer. Julians Wohneinheit musste den Versorgungseinrichtungen der Sportler weichen.
Der Londoner redet nicht gern über seine persönliche Geschichte. Er will sich nicht als Opfer inszenieren. »Ich bin nur eine Fußnote in diesem Prozess.« Seine Kritik an Olympia ist eine politische. Für ihn stehen die allgemeinen Konsequenzen im Mittelpunkt, nicht seine eigenen Verluste. Und darüber spricht er dieser Tage in Deutschland ausführlich, auf Einladung von Olympiagegnern, die sich für die Bewerbung von Hamburg für die Spiele 2024/2028 rüsten.
Seit Mitte 2014 formiert sich in Berlin und Hamburg Widerstand gegen eine deutsche Olympiabewerbung für 2024/28. Umweltverbände und stadtpolitische Initiativen gründeten in beiden Städten NOlympia-Bündnisse. Mit Kampagnen und Diskussionsrunden informieren sie über Kosten und Bauplanungen. Parteipolitische
Unterstützung kommt ausschließlich von der LINKEN. Der Deutsche Olympische Sportbund und die Stadt Hamburg wollten am Dienstag über die nächsten Schritte beraten, nachdem Berlin aus dem Rennen ist. Allein für die Bewerbungsphase sind Ausgaben in Höhe von 50 Millionen Euro veranschlagt, die Hälfte soll von privaten Unternehmen kommen. Noch können die Bürger die Maschinerie stoppen. Im Herbst soll es einen Bürgerentscheid in Hamburg geben. Die Berliner Olympiagegner beraten über Unterstützungsmöglichkeiten. Das in Hamburg erst kürzlich
gegründete Anti-Olympische Komitee lädt am 11. April in das Centro Sociale zur Planung des weiteren Vorgehens ein. js
Verloren hat Cheyne dennoch eine ganze Menge. Die LDA (London Developement Agency) bezeichnete sein Viertel als urbane Wüste. »Das war die apokalyptische Sprache, die die Zerstörung von Wohnraum rechtfertigte« , meint Cheyne. Stratford war ein Arbeiterbezirk, ein ehemaliges Industriezentrum. Cheyne beschreibt sein Viertel wie eine kleine Oase im Londoner Großstadtdschungel. In den alten Fabrikgebäuden hatten sich junge Künstler niedergelassen und Ateliers eingerichtet. Zwischen den Häuserblöcken gab es weite Flächen unberührte Natur. Er zeigt alte Fotos von den verwilderten Feldern. »Hier machten die Menschen Sport, man traf sich draußen, es gab eine richtige Community.« Die Bewohner von StratforD mochten das urige Flair.
Die Häuser von Clays Lane waren sozialer Wohnungsbau. Gute, bezahlbare Appartements - in London eine Seltenheit. Viele Singles lebten dort, und viele junge Leute. »Na ja, nicht alle waren jung, wie man sieht«, meint Cheyne lachend. Er ist Ende 60. Gemütlich und liebenswürdig wirkt der Mann mit dem weißen Vollbart. Dass er richtig wütend werden kann, ist schwer zu glauben. Aber er hat mehr Energie als ein ganzes Studentenwohnheim. Er wurde zu einem Gesicht der Bewegung gegen die stadtpolitischen Folgen von Olympia.
»Insgesamt war der Widerstand in London gering. Ich erinnere mich vor allem an das Gefühl der Machtlosigkeit. Kämpfe gegen einen so übermächtigen Gegner sind brutal, nicht physisch, sondern psychisch.« Er will damit nicht sagen, die Bewohner der Clays Lane hätten nicht gekämpft. Im Kleinen hat die Hausgemeinschaft alles in ihrer Macht stehende getan. »Man muss bedenken, dass das hier normale Leute waren, keine Aktivisten. Eigentlich gibt es in Ostlondon kaum politische Partizipation. Viele sind demoralisiert, gehen nicht mal zur Wahl.« Er glaubt, dass das Problem die Isoliertheit der Widerstände war. »Jede einzelne Gruppe, die mit Verdrängung zu tun hatte, hat für sich gekämpft. Wenn solche Aktionen nicht in eine größere Kampagne eingebettet sind, geht der Protest eben unter.«
Sie haben damals eine kleine Demonstration organisiert, 500 Menschen aus dem Wohnblock, und vor Gericht gestritten. In den letzten Wochen wurde der Druck jedoch für viele zu groß. Nur eine Handvoll war bis zum bitteren Ende geblieben. Julian Cheyne war einer von ihnen.
Heute wohnt er immer noch in Ost-London, in einem kleinen Haus etwas näher am Zentrum. Er ist nicht unglücklich dort, der Bezirk half ihm damals, eine neue bezahlbare Wohnung zu finden. Nicht alle hatten dieses Glück. Die ehemaligen Bewohner der Clays Lane leben jetzt verstreut, viele sind verschuldet. Von den meisten hat Cheyne nichts mehr gehört, der Kontakt ist schnell abgebrochen. 8500 Pfund Entschädigung bekam jeder von ihnen. Peanuts angesichts der Kosten, die auf dem freien Londoner Wohnungsmarkt auf sie warteten.
Julian Cheyne hat das Thema Olympia nicht losgelassen. Nicht wegen der eigenen Geschichte, wie er betont. Ihm geht es um die Systematik hinter Olympia. Er möchte auch den Menschen in anderen Städten zeigen, was hinter den immer gleichen Versprechen steckt. Das Viertel wird aufgewertet, Jobs kommen, Touristen kommen. Alles Quatsch, meint er. In London gab es den Slogan »Wir wollen keine weißen Elefanten«. Mit Elefanten sind Stadien gemeint, die nach solchen Events leer stehen und verfallen. London hat Wort gehalten, weiße Elefanten gibt es kaum. Ganz einfach, weil die meisten Stadien wieder abgerissen wurden. »Das nennt man dann Nachhaltigkeitskonzept.« Jetzt entstehen auf dem Gelände des olympischen Dorfes neue Megaprojekte. »Olymiacopolis« zum Beispiel. Kulturzentren und Forschungsstandorte soll es dort geben. Arbeitsplätze werden also kommen. »Aber das sind Jobs für eine völlig andere Bevölkerung«, meint Cheyne. »Viele Alteingesessene in Stratford haben stattdessen ihre Jobs verloren.« In den Statistiken taucht das nicht auf. Die bestätigen den Politikern: geringere Erwerbslosigkeit, gesündere Menschen. »Nur sind das eben nicht mehr dieselben Menschen.«
Cheyne dokumentiert die Auswirkungen des Sportevents noch immer, die geschönten Statistiken, die Bauruinen. Er gründete seinerzeit die Website GamesMonitor, die zur Plattform von Olympiagegnern und Betroffenen wurde. GamesMonitor ist noch immer aktiv, es berichtet von den Nachwehen in London, Gastbeiträge schildern die Probleme in Peking, Brasilien und Tokio, bald vielleicht auch Hamburg. Dass es ein Olympia geben könnte, das sozial verträglich, transparent und nachhaltig ist - Julian Cheyne glaubt nicht daran.
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