Wenn ich ein junger Muslim wäre...
Emran Feroz zieht eine Bilanz zum Krieg gegen den Terror
»Wenn ich ein junger Muslim wäre und die [jüngste] Ungerechtigkeit in Gaza, bei der 2.000 Menschen in wenigen Wochen von israelischen Bomben getötet wurden, die Vertreibung von Millionen von Menschen in Syrien und die Drohnen-Angriffe der USA, die auf Terror-Verdächtige zielen, jedoch unschuldige Familien töten, beobachten würde, bin ich mir sicher, dass auch ich mich radikalisieren würde«, schrieb der britische Politiker John Prescott vor einigen Tagen in einem Artikel.
Prescotts Worte sind umso bezeichnender, wenn man bedenkt, dass er von 1997 bis 2007 als Vizepremierminister der Vereinigten Königreichs tätig war und damit als Stellvertreter von Tony Blair für den Irak-Krieg sowie den Einmarsch in Afghanistan mitverantwortlich gewesen ist. Erst nach seiner Amtszeit wurde Prescott zu einem lautstarken Kritiker der britischen Außenpolitik. Die Interventionen Blairs bezeichnete er unter anderem als »blutige Kreuzzüge«, die zu einer Radikalisierung von jungen, britischen Muslimen geführt haben.
Islam und Radikalisierung ist zur Zeit ein wahrhaft aktuelles Thema. Nahezu wöchentlich wird das Thema medial ausgeschlachtet. Gleichzeitig erscheinen im Monatstakt neue Bücher zu irgendwelchen Kalifen, heiligen Kriegen oder dem »Islamischen Staat«. Die »Islam-Ecke« in Buchhandlungen ist meist derartig überfüllt, dass man eher den Eindruck gewinnt, hier will jeder »Experte«, meist auch völlig unbekannte Schreiber, von denen man bis dato nichts gehört hat, verzweifelt auf einen fahrenden Zug springne, um Profit zu machen und sich selbst zu profilieren. Zum gleichen Zeitpunkt werden die Vorurteile der Mehrheitsgesellschaft fleißig bedient.
Was sich in den Köpfen vieler Muslime, vor allem junger, seit nun mehr als zehn Jahren abspielt, wurde vollständig in den Hintergrund gerückt, interessiert niemanden. Es lässt sich jedoch kurz und bündig skizzieren: Als junger Muslim, der im Westen lebt, wurde man geprägt von Nachrichten, die zeigen, wie ein muslimisches Land nach dem anderen zerbombt wurde. Für »Demokratie und Menschenrechte«, wie es immer wieder hieß, nicht nur seitens des Nachrichtensprechers, sondern auch seitens vieler Pädagogen und Universitätsprofessoren.
Egal ob der Irak, die einstige Wiege der Zivilisation, Afghanistan, wo Frauen dichteten als man sie in Europa auf Scheiterhaufen verbrannte oder Libyen, welches ein afrikanischer Vorreiterstaat, frei von den Interessen von postkolonial agierenden Banken und Energieunternehmen, hätte werden können – sie alle liegen heute in Schutt und Asche. Ganz zu schweigen vom Gaza-Streifen, der im regelmäßigen Takt angegriffen und dem Erdboden gleichgemacht wird. John Prescott bezeichnete ihn mit Hinblick auf den letzten Angriff im vergangenen Sommer als »Konzentrationslager«. Für die UN ist klar, dass er 2020 nicht mehr bewohnbar sei, aufgrund der zahlreichen Kriegsschäden sowie aus Mangel an Infrastruktur für die 1,8 Millionen Menschen, die darin eingepfercht sind.
Und dann gibt es da noch die üblichen Folterskandale und Drohnen-Morde, die zum Teil des Alltags geworden sind und kaum noch wahrgenommen werden. Wen interessiert schon ein CIA-Folterbericht oder Familie X oder Y, die irgendwo in Waziristan oder im Jemen per Knopfdruck ausgelöscht wurde, kurz bevor der Drohnen-Pilot Feierabend gemacht und an seinem Bier genippt hat?
Es sind all diese Dinge, die viele junge Muslime prägen, ihren Alltag beeinflussen und ihre Persönlichkeit formen. Hinzu kommen noch gesellschaftliche Probleme wie Alltagsrassismus, Benachteiligung im Berufsleben, das Gefühl, ein Fremder zu sein und so weiter und so fort. Dass dies nicht jeden zum Radikalen macht, steht außer Frage. Dass es bei einigen Wenigen jedoch als Zündstoff dient, ist jedoch nur allzu offensichtlich.
Im Westen kümmert man sich jedoch nicht ernsthaft um das Problem. Man packt es nicht an der Wurzel. Stattdessen befasst man sich oberflächlich damit, schmeißt mit plakativen Sprüchen um sich, pflegt Vorurteile und schürt Hass. Und – das ist womöglich der wichtigste Punkt – man erkennt seine eigenen Fehler nicht an.
Jüngste Studien, zum Beispiel jene der Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges (IPPNW) machen deutlich, dass durch den vom Westen geführte »Krieg gegen den Terror« weit mehr als über eine Million Menschen getötet wurden. Konkret spricht man von rund einer Million Toter aus zehn Jahren Irak-Krieg, 220.000 aus Afghanistan sowie 80.000 Menschen in Pakistan. Das viel mehr Opfer als in der Öffentlichkeit bis jetzt angenommen werden. Zahlen aus anderen Ländern, etwa aus Somalia oder aus dem Jemen, existieren nicht. Abgesehen davon muss man davon ausgehen, dass viele Zahlen und Fakten noch im Dunkeln liegen, da in allen genannten Staaten US-freundliche Regierungen an der Macht sind.
Auch die IPPNW geht davon aus, dass ein derartiges Ausmaß menschlicher Zerstörung weltweit Hass schüre und unter anderem den Aufstieg von Gruppierungen wie den »Islamischen Staat« erst ermöglicht habe. Umso weniger erfährt man von diesen Tatsachen über die hiesigen Medien. Selbiges betrifft vermeintliche Islam- und Nahost-Experten. Anstatt den kolossalen Massenmord eines George W. Bushs, eines Tony Blairs oder eines Barack Obamas zur Kenntnis zu nehmen, sucht man die Fehler lieber im Koran.
Der vermeintliche »Krieg gegen den Terror« hat mehr Menschen den Tod gebracht als jeder Terror-Anschlag, der in den letzten Jahrzehnten verübt wurde. Bush, Blair, Obama und andere haben mehr Menschen auf dem Gewissen als der »Islamische Staat«. Die Zahlen sprechen für sich, de facto sind sie gar nicht miteinander vergleichbar. »Es ist auch unsere Schuld«, schreibt John Prescott. Ein Satz, den man von den Regierenden in Washington, London oder Berlin noch lange nicht hören wird.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.