Von einer Bruchbude in die nächste
Unterkünfte für Flüchtlinge bleiben mangelhaft / Ein Drittel hat keinen Betreibervertrag
Am Dienstagmorgen sollten rund 120 Flüchtlinge, die in einer Turnhalle der TU Berlin in Westend eingerichtete Notunterkunft verlassen und in eine ehemalige Schule in Reinickendorf umziehen. Einige von ihnen weigerten sich zunächst. »Wir haben uns das Gebäude angesehen. Es ist nicht bewohnbar«, sagt Marlene Cieschinger vom Bündnis »Willkommen im Westend«. Betten seien in sonst leere und dreckige Klassenräume gestellt worden. Es gebe weder Stühle noch Tische oder Schränke. Viele der Flüchtlinge seien trotzdem nach Reinickendorf gegangen, weil das LAGeSo (Landesamt für Gesundheit und Soziales, Anmerk.d.Red.) ihnen ansonsten mit polizeilicher Räumung drohe, so Cieschinger. »Sie sind verzweifelt und haben Angst.«
Die Sozialverwaltung führt die Schule in Reinickendorf als »Notbelegte Unterkunft«, 124 Menschen sollen dort Platz finden. »Schon die Situation der bisher hier lebenden Geflüchteten ist denkbar schlecht«, sagt Marlene Cieschinger.
Der flüchtlingspolitische Sprecher der Piratenfraktion, Fabio Reinhardt, war am Dienstmorgen in der Unterkunft: Erst kurzfristig seien zum Beispiel Duschcontainer aufgestellt worden, berichtet er dem »nd«. »Die kurzfristige Planung stellt alle Beteiligten vor enorme Probleme: Von den Betreibern, über die Elektro- und Sanitärinstallateure, bis hin zu den SozialarbeiterInnen und Ehrenamtlichen vor Ort.« Am stärksten betroffen aber seien die Flüchtlinge, welche von einer Baustelle zur nächsten geschoben werden, ohne ausreichende Informationen und ohne Chance auf menschenwürdige Mindeststandards. »Manche der Flüchtlinge leben bereits seit Dezember mit 200 Menschen unter unzumutbaren Bedingungen in der Sporthalle (der TU)«, sagt Cieschinger vom Bündnis in Westend. »Es ist unerträglich, dass sie von einer Bruchbude in die nächste geschickt werden.«
Reinhardt: »Seit mehr als vier Monaten ist dem LAGeSo und dem zuständigen Sozialsenator Czaja bekannt, dass die Turnhallen als Notunterkünfte zum 31. März geschlossen und wieder den Sportvereinen zur Nutzung übergeben werden sollen. Seit mehr als vier Monaten hätte man sich also um neue adäquate Unterbringungsmöglichkeiten für die Flüchtlinge kümmern können. Das ist nicht passiert.«
Eine Begehung am 17.März hatte bereits ergeben, dass es nicht genügend Toilettencontainer gibt und die Wasserleitungen defekt sind. »Die meisten Räume der Unterkunft haben keinen Zugang zu frischem Wasser, Waschmaschinen sind nicht vorhanden. Die Bewohnerinnen und Bewohner der Einrichtung sind deshalb angehalten, ihre Wäsche per Hand zu waschen und sie auf den Heizanlagen zu trocknen«, hatte der flüchtlingspolitische Sprecher Linkspartei, Hakan Taş, nach der Begehung erklärt. Das LAGeSo hatte am 21. März mitgeteilt, die »festgestellten Mängel« seien behoben worden.
Der Zustand der berlinweit eingerichteten Unterkünfte für Geflüchtete ist immer wieder Gegenstand von Kritik. Wegen des Vorwurfs der Vetternwirtschaft beziehungsweise schlechter Zustände in den betreffenden Unterkünften waren bisher vor allem die Gierso GmbH und die PeWoBe GmbH in die Schlagzeilen geraten. Gegen die PeWoBe wurden beispielsweise auch Vorwürfe erhoben, sie habe mit dem Ausbau einer Unterkunft beauftragte Subunternehmer nicht ausbezahlt. Opposition wie verschiedene Initiativen, die sich für Flüchtlinge einsetzen, hatten Sozialsenator Mario Czaja (CDU) sowie die rot-schwarze Koalition wiederholt aufgefordert, Betreiber von Unterkünften genauestens zu prüfen und die Ausstattung der (Not)Unterkünfte zu verbessern.
In einer parlamentarischen Anfrage der Piratenfraktion, die »nd« vorliegt, erklärt die Senatsverwaltung für Gesundheit und Soziales: »Bei der Vergabe von Flüchtlingseinrichtungen werden Heimbetreiberinnen und Heimbetreiber angeschrieben, die bereits vertragsgebundene Einrichtungen betreiben.« In der im Folgenden genannten Liste des »Betreiberpools« ist die Gierso nicht mehr aufgeführt. Eine Begründung dafür war von der Sozialsenatsverwaltung bis Redaktionsschluss nicht in Erfahrung zu bringen.
Potenzielle Betreiberfirmen müssen gegenüber dem LAGeSo darlegen, dass sie die für den Betrieb einer Flüchtlingseinrichtung notwendige »Leistungsfähigkeit, Fachkunde, Zuverlässigkeit und Wirtschaftlichkeit besitzen«, wie die Senatsverwaltung für Soziales erklärt.
Betreiber der Eingangs genannten Unterkunft in Reinickendorf ist nach Senatsangaben der SIN e.V.: Die Soziale Initiative Niederlausitz mit Sitz in Cottbus ist laut Eigenauskunft eine Anerkannte Schuldner- und Insolvenzberatungsstelle in Brandenburg. Laut Website arbeitet die Initiative außerdem in der Kinder- und Familienhilfe.
Aus der Antwort auf die Anfrage der Piraten geht weiterhin hervor, dass für rund 20 Flüchtlingsunterkünfte - Not- und Gemeinschaftsunterkünfte sowie Erstaufnahmeeinrichtungen - keine schriftlichen Verträge zwischen LAGeSo und den jeweiligen Betreibern vorliegen. »Es ist beabsichtigt, die endgültigen Vertragsverhandlungen zeitnah abzuschließen«, erklärt die Senatsverwaltung dazu. »Dass es für fast ein Drittel der Unterkünfte keine Verträge gibt, haben wir wiederholt angemahnt«, sagt Reinhardt. »Das führt zu Unsicherheiten bei allen Beteiligten. Es kann nicht sein, dass Millionenbeträge ausgegeben werden, ohne dass es dafür eine Grundlage gibt.«
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