Tote Flüchtlinge bleiben namenlos
Emran Feroz über die jüngste Katastrophe im Mittelmeer
Medien haben die Deutungshoheit. Sie klassifizieren und degradieren. Oftmals beschreiben sie nicht die Realität, sondern kreieren sie. Und sie bestimmen, über wen getrauert werden soll und über wen nicht. Zeuge dieses zynischen Spiels, welches zum Alltag geworden ist, konnte man auch diese Woche werden - nachdem für 400 Menschen auf dem Weg zur europäischen Festung das Meer zur Hölle wurde. Wieder einmal.
Berichten von Überlebenden zufolge fand die Katastrophe am Sonntag statt, 24 Stunden nachdem das völlig überladene Schiff an der libyschen Küste aufgebrochen war. Von den rund 550 Insassen wurden weniger als 150 gerettet. Unter den 400 Toten befinden sich zahlreiche Kinder und Jugendliche.
In den Medien spielte all das so gut wie keine Rolle. Anders als nach der Germanwings-Tragödie gab es weder Live-Ticker, Pressekonferenzen, Solidaritätsbekundungen oder Schlagzeilen. Kein Korrespondent wurde an die Unglücksstelle gebracht, geschweige denn die Angehörigen der Opfer.
Man stelle sich vor, was heute los wäre, wenn die Opfer keine afrikanischen Flüchtlinge, sondern europäische Urlauber, ja, Passagiere irgendeines Luxusdampfers gewesen wären. Wie viele Sondersendungen hätte es wohl gegeben? Wie viele Einzelschicksale wären den Zuschauern vorgeführt worden?
Tote Flüchtlinge hingegen bleiben namenlos. Sie sind zum Alltag geworden. Im regelmäßigen Takt finden Menschen aus den Krisenregionen dieser Welt, Krisen, für die vor allem westliche Staaten und Großkonzerne mitverantwortlich sind, den Tod vor den Toren Europas. Und jedes Mal, egal wie groß die Katastrophe ist, spielt sich dasselbe Szenario ab. Die Europäische Union, ein Friedensnobelpreisträger, der immer wieder mit seinen sogenannten Werten prahlt, verhüllt sich in Schweigen, während die führenden Medien, egal ob in Frankreich, Deutschland oder Großbritannien, selbiges tun, indem sie die Toten ignorieren oder durch Randmeldungen als Opfer zweiter Klasse degradieren.
Falls das Thema dann doch politisch zur Ansprache kommt, zieht man es vor, lediglich auf skrupellose Schlepper und brutale Diktatoren zu verweisen. Wer die Strukturen für besagte Schlepper geschaffen hat und mit wem afrikanische und arabische Diktatoren am Liebsten zusammenarbeiten, wird systematisch verschwiegen. Selbiges betrifft das brutale Vorgehen von Frontex. Höchstens einmal im Jahr wird die EU-Agentur, welche die europäischen Grenzen »sichert«, wie es so schön heißt, der Öffentlichkeit zuliebe kritisiert. Das war es dann aber auch. Von Reformen fehlt weiterhin jegliche Spur. Stattdessen werden weiterhin Menschen in den Tod getrieben, stillschweigend toleriert von Brüssel.
Gegenwärtig ist das Schweigen lauter denn je. Auch die aktuelle Katastrophe wird nicht die letzte gewesen sein. Vor Europa werden weiterhin die Boote voll bleiben. Wer ihren Untergang toleriert und das Meer mit dem Blut von Flüchtlingen tränkt, ist des Mordes schuldig. Und Mord verjährt nicht.
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