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Fest der Bedeutungslosigkeit

Stephan Kimmig schafft es am Berliner DT, das Publikum mit Schillers »Don Carlos« einzuschläfern

  • Christian Baron
  • Lesedauer: 6 Min.

Theater ist fast immer für den am spannendsten, der nicht ganz vorne sitzt. Zum einen, weil die hinteren Reihen preisgünstiger sind. Auch, weil man auf diesen Plätzen sicher ist gegen gelegentliche Spuckfontänen des Ensembles. Vor allem aber ist die Möglichkeit reizvoll, neben dem Bühnengeschehen zusätzlich das Publikum beobachten zu können. Bei der Premiere von Schillers »Don Carlos« unter Regie von Stephan Kimmig am Deutschen Theater (DT) in Berlin zeigte sich am vergangenen Donnerstag, warum das an diesem Schauspielhaus besonders interessant ist: Die nicht eben überdimensionierte Hauptspielstätte bietet von überall eine gute Sicht auf Vorderleute und Bühne.

Zum Beispiel dieser ältere Mann mit grau meliertem Stoppelbart im Parkett rechts, Reihe fünf. Anfangs noch lächelte er ob des vielversprechenden Beginns, an dem auf einer heruntergelassenen Leinwand ein feierlich gekleidetes kleines Mädchen gemächlich durch ein karges Kellerloch stapfend und irre in die Kamera stierend irgendwas von »Europa« piepste. Es dauerte jedoch keine halbe Stunde, da versteinerte sich seine Miene. Stundenlang verharrte er in diesem Zustand, bis das Lächeln in sein geplagtes Antlitz zurückkehrte. Allerdings erst, nachdem ihm die Augen längst zugefallen waren.

Oder diese Dame mittleren Alters mit blondem Dutt und adrettem Hosenanzug eine Reihe dahinter. Dank der Neonlichtröhren, die die meiste Zeit dieses fast vierstündigen Abends die zu einer Mischung aus ödem Büroraum und tristem Krankenhaus drapierte Bühne ebenso grell beleuchteten wie den nahezu voll besetzten Zuschauerraum, ließ sich von der Seite ihr unablässiges Nicken begutachten. Gefiel ihr etwa, wie die Figuren so mumienhaft agierten, als hätte man die Untoten aus Michael Jacksons berühmtem »Thriller«-Video vom Friedhof in eine sterile Business-Landschaft verfrachtet und die Musik auf stumm geschaltet, damit sich neben dem monoton heruntergeleierten Text nur das dezente Knarzen des sich ständig im Schneckentempo um die eigene Achse drehenden Bühnenbilds vernehmen lässt?

Während sich der langmähnige Ulrich Matthes gänzlich seiner mimetischen Kraft beraubt als König Philipp von Spanien wie ein frisch vom Lobotomie-Eingriff ins Rampenlicht geschobener Schwerstdepressiver in seinem Bürostuhl-Thron fläzen und sein Hadern mit der eigenen Machtausübung hölzern aussprechen musste, offenbarte ein genauer Blick auf die Dutt-Dame in der sechsten Reihe, was wirklich hinter ihrem Nicken steckte: Sie kämpfte beharrlich gegen das Einschlafen. Ohne Erfolg.

Da konnte sich DT-Intendantensohn Alexander Khuon im Joggingdress durch eifriges Seilspringen, schnelle Liegestütze und strammes Schattenboxen noch so redlich abmühen, den Königssohn Don Carlos als unglücklich Liebenden zu geben, der seinen Schmerz durch exzessive Selbstoptimierung zu betäuben trachtet. Nach spätestens fünfzehn Minuten dürfte auch die sich tapfer gegen das Einnicken stemmende Frau im Parkett begriffen haben, was hier gespielt wird: Das sprachgewaltige Schiller-Stück ist in dieser Version kein Ränkespiel ständig brodelnder Machtkonflikte mehr, sondern nur noch ein Beziehungsdrama, reduziert auf die Befindlichkeiten einer ausgebrannten Fürstenfamilie.

Daran ist vordergründig nichts auszusetzen. Wie Kimmig den Stoff aber auf die DT-Bühne gebracht hat, das ist nicht einmal mehr ärgerlich, sondern einfach nur belanglos. Nichts verstörte, nichts erfreute, nichts sprang ins mit zunehmender Spieldauer nahezu kollektiv sich schließende Auge des Publikums.

Oder doch, einmal zumindest war Fremdschämen angesagt. Nach einer gefühlten Stunde hatte die Drehbühne eine kleine Szene mit einer im Hintergrund verloren auf einem Tisch platzierten Miniaturausgabe der EU-Fahne ins Blickfeld geschleppt. Ein beinahe unmerkliches Raunen ging durch den Saal, in den hinteren Reihen beugten sich manche Zuschauer nach vorne und stützten erwartungsvoll die Hände ins Kinn. Vielleicht wird das ja doch noch was! Da wird sich Kimmig oder irgendjemand aus seinem Team kurz vor der Premiere immerhin noch gedacht haben, dass da ja irgendwie dringend noch die obligatorische kritisch-politische Meta-Ebene her müsse.

An dieser Stelle erschloss sich dann auch endlich die Eingangssequenz mit dem Leinwand-Kind. Leider aber erschloss sich das Europa-Thema insgesamt überhaupt nicht, weil es nicht mehr vorkam und so zur bloßen Andeutung verkam, die das jedweder allgemeinpolitischen Haltung abgewandte Prinzip dieser Inszenierung unbeholfen torpedierte. Und in den hinteren Reihen sanken viele schnell wieder in ihre gemütlichen Sitzkuhlen. Wie mag das mit dem EU-Sujet wohl abgelaufen sein? Vielleicht so: »Hm, was gibt’s da denn so alles an politischem Potenzial? Da muss sich doch irgendwas herausfiltern lassen ... Heureka! Der König schickt sein Gefolge doch nach Brüssel! Nach Brüssel! Da sitzt ja dieses, na wie heißt es noch gleich, äh, ja genau, dieses EU-Parlament! Und ist diese EU nicht gerade in der Kritik wegen diesen, wie sagt man noch gleich, wegen diesen Flüchtlingen und so?«

Der revolutionäre Dichter Friedrich Schiller als routinierte Pflichtaufgabe an einem Theater, das den Nimbus eines der Spielhäuser mit der größten Premierendichte im deutschsprachigen Raum zu verteidigen hat. Wie schade. Denn dieser sprachgewaltige Text lebt doch gerade von den zwischenmenschlichen Spannungen, den schwelenden Interessengegensätzen, dem Lodern der Leidenschaften. Nichts davon ist in Kimmigs Version zu sehen. Statt eines Schlucks aus der Pathos-Pulle gönnte sich Don Carlos neben dem Nach-Sport-Schluck aus der Wasserflasche als menschliche Regung einzig eine penetrant versteift dargebotene Verzweiflung in seiner unerfüllten Liebe zur ausgebufften Königin Elisabeth (Katrin Wichmann), die ihm vom eigenen Vater vor der Nase weggeheiratet wurde. Das kalauernde Werben der Prinzessin Eboli (Kathleen Morgeneyer) um den drögen Carlos wirkte da so deplatziert wie es Fips Asmussen in einer Jura-Vorlesung an der Uni wäre.

Irgendwann, als sich dieses Fest der Bedeutungslosigkeit allmählich seinem wohlverdienten Ende zuneigte, ertönte plötzlich ein Knall. So laut, dass selbst der bereits seit kurz nach dem Ende der Pause mit auf der Rückenlehne aufgestütztem Kopf und weit geöffnetem Mund in seinem samtroten Stuhl schlummernde Herr gesetzteren Alters aus der vierten Reihe blitzartig kerzengerade dasaß. Es war jener Schuss, der den Marquis von Posa (Andreas Döhler) zur Strecke bringen sollte. Bezeichnend, dass es sich bei dem idealistischen Jugendfreund des Don Carlos um die einzig fidele Figur des Abends handelte, die zeitweise doch tatsächlich als Mensch aus Fleisch und Blut über die kalte Szenerie wirbelte. Das weite Netz an Intrigen, an dem der Malteserritter fleißig mitgesponnen hat, war da aber schon inmitten dieses gähnenden Mangels an Regie-Einfällen komplett verloren gegangen.

Klar ist am Ende nur eines: Friedrich Schiller hat ein Stück über eine oberflächliche Welt geschrieben. Stephan Kimmig hat daraus eine oberflächliche Inszenierung gemacht. Das darf der Regisseur als Kompliment verstehen: Hat er es doch vollbracht, weite Teile seines Publikums mit einem imposanten Text einzuschläfern, dessen narkotisierende Wirkung eigentlich so groß ist wie die Wahrscheinlichkeit, dass ein Tanzwütiger auf Speed während eines Rammstein-Konzerts direkt neben den Lautsprechern in einen kuscheligen Tiefschlaf verfällt.

Nächste Vorstellungen: 14., 19., 29. Mai; 4., 10. Juni; 5. Juli.

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