Frankreichs anderer 8. Mai
Die einstige Kolonialmacht arbeitet langsam die Folgen eines lange verdrängten Massakers in Algerien auf
Tage vor dem 70. Jahrestag des 8. Mai 1945 hat Frankreichs Regierung in der algerischen Kleinstadt Sétif einen Kranz niederlegen lassen. Denn das Land feiert sich dieser Tage nicht nur als Weltkriegsgewinner. Am 8. Mai erinnert die ehemalige Kolonialmacht auch an ein Massaker der französischen Armee im damals vergeblich nach Unabhängigkeit begehrenden Algerien. Aus diesem Grund besuchte Frankreichs Staatssekretär für die ehemaligen Kriegsteilnehmer und für das Gedenken an die Kriegsopfer, Jean-Marc Todeschini, schon in der vergangenen Woche Sétif.
Sétif am 8. Mai 1945 - das war ein blutiges Vorzeichen für den Algerienkrieg, der zehn Jahre später mit voller Wucht ausbrach. Am Tag, den das gerade von der nazistischen Besatzung befreite Europa als »Victory Day« feierte, zogen freudig erregte Menschenmassen auch durch die Straßen der 300 Kilometer westlich von Algier gelegenen Hafenstadt. Im Krieg hatten Tausende Algerier als Soldaten des von General de Gaulle geführten Freien Frankreich zum Sieg über die deutschen Aggressoren beigetragen.
Zum Dank erwarteten viele Algerier von Frankreich die Unabhängigkeit ihres Landes. Die 1939 verbotene und aufgelöste algerische Unabhängigkeitspartei PPA organisierte für den 8. Mai 1945 in Sétif eine Demonstration, die dem Ende des Krieges gewidmet war. Als dann aber im zunächst friedlichen Zug von etwa 10 000 Menschen die verbotenen weiß-grünen Fahnen der Unabhängigkeitsbewegung und Spruchbänder mit der Forderung »Unabhängigkeit für Algerien« auftauchten, gegen die die Polizei brutal vorging, schlug lange unterdrückter Hass in Gewalt um. Ein Teil der Demonstranten griff Cafés und Geschäfte von Franzosen an. Bei diesen Ausschreitungen kamen 109 Franzosen ums Leben.
Die Kolonialverwaltung geriet in Panik und forderte Militär an, um den Aufruhr niederzuschlagen. Die Armee richtete dabei ein Blutbad an, das in keinem Verhältnis zum Anlass stand, das aber wohl vom Ausmaß der Furcht der französischen Regierung zeugte, den Beginn eines landesweiten Unabhängigkeitskampfes zu erleben.
Geführt durch ortskundige französische Siedler, holten die Soldaten willkürlich algerische Männer aus den Häusern, trieben sie zusammen und erschossen sie reihenweise mit Maschinengewehren. Ganze Straßenzüge wurden mitsamt der Bewohner, darunter Frauen und Kinder, in Schutt und Asche gelegt. Dörfer rund um Sétif wurden durch Flugzeuge bombardiert oder aus Kanonen französischer Kriegsschiffe, die vor der Küste ankerten, beschossen. Diese zynisch »Befriedungsaktion« genannte Mordorgie endete erst am 22. Mai mit der bedingungslosen Kapitulation und Unterwerfung der algerischen Stämme der Region.
Wie viele Menschen in den Maitagen 1945 ums Leben gekommen sind, wurde nie festgestellt, weil die Kolonialmacht jegliche Nachforschungen unterband. Schätzungen reichen von 10 000 bis 45 000. Erst vor zehn Jahren sprach erstmals ein französischer Botschafter von einen »unentschuldbaren Massaker«. Der folgende Annäherungsprozess an die historische Wahrheit gipfelte 2012 beim ersten Auslandsbesuch von Präsident François Hollande in seiner Rede vor dem algerischen Parlament, wo er das »zutiefst ungerechte und brutale Kolonialsystem« verurteilte, das »dem algerischen Volk schwere Leiden zugefügt« habe und unter anderem auch für Sétif 1945 verantwortlich sei.
Doch diese Haltung wird in Frankreich längst nicht von allen geteilt. Auch jetzt wieder haben die Verbände der »Pieds noirs«, der ehemaligen französischen Siedler, und der Harki, der algerischen Kriegsfreiwilligen, die Ehrung in Sétif als »nicht hinnehmbare Provokation« bezeichnet.
Die Regierung bemüht sich derweil auch durch wirtschaftliche Zusammenarbeit um eine Verbesserung und Normalisierung der Beziehungen zu Algerien. So werden Außenminister Laurent Fabius und Wirtschaftsminister Emmanuel Marcron am 12. Mai in Annaba bei der Einweihung eines algerischen Tochterunternehmens des französischen Schwermaschinenkonzerns Alstom erwartet. Algerien verfügt über 50 Jahre nach der formalen Unabhängigkeit noch immer über keine nennenswerte Industrie und ist vom Verkauf von Öl und Gas abhängig. Doch durch den Verfall der Preise auf dem Weltmarkt schrumpfen diese Einnahmen. Die Regierung will jetzt die Industrialisierung forcieren - nicht zuletzt mit Hilfe Frankreichs.
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