»Es ist schwierig, aber wir haben keine Angst«

Was denken Griechen nach 100 Tagen SYRIZA in der Regierung? Vom Professor zur Putzfrau: Fünf Eindrucke aus Athen

  • Petros Katsakos
  • Lesedauer: 6 Min.

Dimitra Manoli, Entlassene Putzfrau des Finanzministeriums

Es ist schwierig für uns, aber wir haben keine Angst. Wir sehen eine Regierung, die seit drei Monaten für die Bewältigung der Probleme des griechischen Volkes kämpft. Ganz im Gegensatz zu den Vorgängerregierungen, die bei den ersten Schwierigkeiten immer auf die einfachste Lösung zurückgegriffen haben: Entlassungen und Kürzung von Löhnen und Renten. Sicherlich hätte für die Bürgerinnen und Bürger alles noch besser laufen können in diesen ersten 100 Tagen. Was wir aber festhalten wollen, ist der Optimismus in den Gesichtern der Menschen hierzulande. Was unser Problem betrifft, befinden wir uns nun kurz davor, unsere Arbeitsplätze wiederzubekommen. Am 5. Mai wurde das Gesetz verabschiedet, das die Rückkehr von Tausenden Entlassenen an ihre Arbeitsplätze vorsieht. Jene Arbeitsplätze, die uns die Vorgängerregierung brutal entzogen hat. Wir befinden uns nur wenige Tage vor dem großen Sieg. Nicht nur vor dem Sieg der 595 Putzfrauen des Finanzministeriums, sondern auch vor dem historischen Sieg einer gesamten Gesellschaft, die sich nicht der Logik der brutalen Austerität unterworfen hat.

»100 Tage SYRIZA« ist eine Kooperation von Rosa-Luxemburg-Stiftung und »neues deutschland«. Übersetzung der Texte: Kostas Tsanakas und Christina Emmanouilidou. Noch mehr Kommentare und Analysen finden Sie im Internet unter: www.rosalux.de/100-tage-syriza oder dasND.de/syriza

Dimitris Kaltsonis, Professor für Rechtstheorie an der Panteios-Universität Athen

Nach der Bildung der neuen Regierung war die Bevölkerung erst mal erleichtert, aber auch unsicher. Es sah ja vorübergehend so aus, als könne man nun die gegen das Volk gerichteten Maßnahmen stoppen. Bereits die Verhandlungen mit der EU konnten ein Gefühl des Stolzes der Menschen wiedererwecken. Es war durch die Vorgängerregierung zertrümmert worden. Was unter dieser stattfand, war eine absolute Unterwerfung. Nun scheinen aber die Bemühungen der Regierung, durch ihr Reformprogramm einen Kompromiss mit den Gläubigern zu finden, keine Früchte zu tragen. Solange die Regierung darauf beharrt, im alles erdrückenden EU-Rahmen zu bleiben, und zwar ohne Schuldenerlass, wird sie zu kleinen oder größeren Zugeständnissen zulasten ihres eigentlich ja doch eher beschränkten Wahlkampfprogramms gezwungen sein. Um aus dieser ausweglosen Lage zu kommen, ist eine Neuorientierung notwendig. Dazu gehören ein Schuldenerlass, die aktive Einforderung der 278 Milliarden Euro an deutschen Reparationen sowie letztendlich der Bruch mit der EU - allerdings nur vorbereitet und auf Initiative der griechischen Regierung. So können negative Auswirkungen auf die Bevölkerung bewältigt und ein echter Wachstumskurs eingeschlagen werden.

Nikos Ioannidis, Entlassener Beschäftigter des Senders ERT

In den ersten 100 Regierungstagen ist viel passiert, aber es gibt auch viel, das noch hätte passieren müssen - und es gibt noch viel mehr, das noch passieren muss. Die gesetzten Prioritäten wurden - wenn auch verspätet - eingehalten: Es wurde mit unseren Partnern verhandelt, das Gesetz über die Bewältigung der humanitären Krise wurde verabschiedet und nun ist das Gesetz über die Inbetriebnahme des öffentlichen Rundfunks an der Reihe. Sicherlich hätten wir, die 2500 Entlassenen, es vorgezogen, wenn dies bereits am ersten Tag nach den Wahlen passiert wäre. Aber natürlich: Das wäre nicht möglich gewesen. Die Tatsache, dass dieses Versprechen überhaupt eingehalten wurde, gibt uns Hoffnung. Es ist spürbar, dass sich etwas verändert. Aber wir dürfen nicht aufhören, weiter zu kämpfen, für eine bessere Zukunft. Wir hätten gerne einen Zauberstab, der alle Ungerechtigkeiten sofort beheben würde. Aber in der Politik gibt es keine solchen Lösungen. Für einen gesellschaftlichen Wandel brauchen wir Geduld und wir müssen weiter kämpfen.

Jorgos Kiritsis, Journalist

Die Arbeitshypothese von SYRIZA war, dass sich die Partner des Landes nicht als Gläubiger, sondern eben als Partner verhalten und dass sie unter Achtung der Demokratie die neue griechische Regierung ihre Politik entwickeln lassen werden. Diese Erwartung hat sich nicht erfüllt. Die Partner haben den Hut des Gläubigers aufgesetzt, sich hinter den Unterschriften der Vorgängerregierung verschanzt und sich geweigert, über die Inhalte der ausweglosen und katastrophalen Politik zu sprechen, die sie Griechenland auferlegt haben. Sie behaupten, sie sprechen die Sprache der Zahlen, vergessen dabei aber die beiden wichtigsten: eine um 25 Prozent geschrumpfte Wirtschaft und 28 Prozent Arbeitslosigkeit. Sie berufen sich darauf, dass es in allen Ländern Wahlen und Parlamente gibt. Dabei übersehen sie, dass nur in Griechenland Wahlen über das Memorandum abgehalten wurden. Es ist klar, dass sie entweder auf den Sturz der Regierung oder auf ihre bedingungslose Kapitulation und den Austausch durch - in ihren Worten - »bekannte Gesichter« abzielen. Auf jeden Fall wollen sie angesichts der Wahlen in Ländern wie Spanien unbedingt den Eindruck vermeiden, eine linke Regierung könne einen alternativen Weg einschlagen.

Tasos Koronakis, Sekretär des Zentralkomitees von SYRIZA

Die griechische Regierung hat in dieser kurzen Zeit eigentlich ein sehr wichtiges Ziel erreicht: Die Geltung Griechenlands und die Würde seiner Bewohner durch das Setzen klarer roter Linien wiederherzustellen. Zum ersten Mal erleben wir echte Verhandlungen. Das Volk fühlt sich durch die von ihm gewählte Regierung vertreten. Natürlich stehen uns im In- und Ausland unverbesserliche Austeritätsfanatiker gegenüber, die von ihrer harten Erpressung nicht abrücken. Aber mit der griechischen Gesellschaft im Rücken und mit Hilfe einer einmaligen Solidaritätswelle auf europäischer Ebene machen wir entschlossen weiter: Wir verfolgen den einzigartigen Anspruch, unsere Wahlkampfversprechen umzusetzen. Die Zahlung fälliger Schulden an die Staatskasse in 100 Raten und ein erstes Programm zur Bewältigung der humanitären Krise sind bereits Gesetz. Wir haben es geschafft, dass der Begriff »humanitäre Krise« beim EU-Gipfeltreffen über die Lippen hochrangiger Funktionäre kam. Das kommt der Anerkennung der katastrophalen Folgen der Memoranden gleich. Ebenfalls umgesetzt wurde unser Versprechen einer humaneren Gestaltung der Gefängnisse; wir bringen die Gesetzentwürfe über die Wiederinbetriebnahme der öffentlichen Rundfunkanstalt ein, wir stärken den Sozialstaats durch die Wiedereinstellung von Beamten in kritischen Bereichen, wir befördern den Abbau der Bürokratie und bringen die Wiedereinführung der Tarifverträge voran. In diesen ersten 100 Tagen hat die Regierung um Griechenlands radikale Linke, die erste dieser Art im zeitgenössischen Europa, ein Modell für eine breite gesellschaftlich-politische Allianz gegen die Austerität geschaffen. Und es handelt sich um die einmalige Chance, die sozialen Bewegungen Europas in der gemeinsamen Forderung nach einem Ende der Austerität und der Reaktivierung von Demokratie wieder zu vereinen. Griechenland ist der erste Riss, durch den Würde und Solidarität, Demokratie und Wachstum wieder ans Licht dringen können. Wir haben diesen ersten großen Riss geöffnet und werden ihn für die anderen Völker Europas offen halten.

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