Die Stille vor dem Landeanflug
Theatertreffen: »Atlas der abgelegenen Inseln« im Ossietzky-Gymnasium
Das Schöne am »Atlas der abgelegenen Inseln« von Judith Schalansky, von Thom Luz für das Schauspiel Hannover inszeniert, ist, dass er uns nicht mit allzu direkten Antworten enttäuscht. Denn dies hier ist vor allen eins: ein fein gesponnenes poetisches Netz aus fragmentierter Wahrnehmung. Eine anthropologische Reise im Abendlicht, ein Untergeherstück, aber nicht als Katastrophe erzählt, sondern als eigensinnige Selbstbehauptung Einzelner. Kann man das auch deutlicher sagen? Für Judith Schalansky und Thom Luz nicht ohne Verlust an Atmosphäre, jenem Rhythmus, um den es ihnen geht.
Gefragt, was ihn an diesen fragmentierten Chroniken des Scheiterns interessiert, antwortet Regisseur Luz im Interview, und das ist der Grundton, auf den die folgenden neunzig Minuten gestimmt sind: »Diese Geschichten trösten mich. Ich halte mich an dem Satz fest, den Henry Shackleton nach seiner grandios gescheiterten Polarexpedition zu Protokoll gegeben hat: ›Man muss seine Ziele nicht erreichen, um anzukommen‹.«
Für das Theatertreffen war die Einladung von »Atlas der abgelegenen Inseln« eine logistische Herausforderung. Wo sollte man dieses Traumstück spielen? Man fand das Carl-von-Ossietzky-Gymnasium in Pankow, das ein herrschaftliches Treppenhaus besitzt, das mehr zum repräsentativen Schreiten als zum schlichten Gehen animiert. Ein guter Ort für dieses paradoxe Stück, das der Regisseur ein Hörstück nennt. Natürlich sehen wir Zuschauer trotzdem etwas, aber nie alles. Denn das Spiel geht über drei Ebenen, auf jedem Treppenabsatz sitzen Zuschauer. Die vier Schauspieler und vier Musiker laufen, nein schweben eher, totenblass geschminkt barfüßig treppauf und treppab. Manchmal sagen sie nur »Ich bin gleich wieder da« und sind schon wieder weg. Was auf den anderen beiden Spielebenen gesprochen wird, dringt nur wie fernes Murmeln, fast wie Meeresrauschen, herüber. Man hat nur die Bruchstücke, etwas fehlt immer.
Wir hören Geschichten wie die von Hugh Bannings, einem kalifornischen Seemann vor hundert Jahren, der aufs Meer hinausfuhr, um Schiffbruch zu erleiden. Da kehrt sich unser zivilisatorischer Drang zur Perfektion gegen sich selbst. Wir hören von Atollen, auf denen Atombomben getestet wurden, dann wieder von archaischen Riten auf Kokosinseln. Auf dem Treppenabsatz steht auch ein Sprechfunkgerät, es hält Funkkontakt zu den anderen Ebenen und spricht auch dann, wenn hier sonst niemand ist.
Irgendwie kommt man sich vor wie auf der wieder aufgetauchten »Titanic«. Der Untergang liegt bereits hinter uns, Panik wäre fehl am Platz. Der Bordkapelle sieht man an, wie lange sie schon tot ist, umso mehr drängt das Quartett an uns heran. Ganz dicht stehen die vier vor den ersten Stuhlreihen, starren uns Zuschauer dabei an, als wären wir hier die Attraktion. Dies scheint eine Gespenstersonate, uns daran erinnernd, dass Zeit nicht nur Frist ist, das allein wäre eine egozentrische Auffassung der Zeit, sondern etwas anders: ein riesiges Meer, und die Schauplätze unseres Handelns sind nicht mehr als abgelegene Inseln darin. Vom Flugzeug aus erkennt man sie nicht einmal, wenn auch nur eine Wolke über ihnen steht.
Ich bin gleich wieder da? Die Beschwichtigung, fast schon Beschwörung der die Treppe hinab und hinauf gleitenden Schauspieler, die hier multiple Geschichten- und also auch Existenzträger sind, bekommt etwas zunehmend Melancholisches. Einer geht, wenn der andere kommt: »Meine Sehnsucht ist davongesegelt.«
Der Text von Judith Schalansky klingt hinreißend unzeitgemäß - und trifft gerade so den freiliegenden Zeitgeistnerv, der Scheitern ebenso wenig kennt wie quälende Krankheit und Tod. »Der Weltgeist ertrinkt in der Badewanne« wusste Gottfried Benn über unsere erfolgssüchtige Hochleistungshybris zu sagen.
Und ja, die Welt als Bühne ist nicht mehr als ein Treppenabsatz. Auf anderen Ebenen, auch wenn wir es nur von fern hören, wird auch gespielt. Das gleiche Spiel wie hier? Wenn man das wüsste! Die Treppenhausbühne ist so eng, dass eine Art Galgen direkt vor meinen Füßen steht. Nach einer Stunde wird hier ein Eisblock aufgehängt. Das Eismeer und die »Titanic«! Aber ausgesprochen wird das hier nicht, oder wenn doch, dann woanders. Man gewöhnt sich mit der Zeit daran, das meiste zu verpassen. Der Abend hat etwas Herausforderndes: Man muss das Fehlende ergänzen und hat dazu niemanden anderes als sich selbst. Wenn Theater auf der Grenze zur Performance wie hier gelingt, ist viel - im besten Sinne - gewonnen.
Jemand von den toten Seelen flüstert davon, dass nichts befriedigender sei als die selbstgewählte Einsamkeit. Stille breitet sich aus. Ein in Tegel landendes Flugzeug zerdröhnt sie erbarmungslos. Unter dem tropfenden Eisblock hat sich längst eine Pfütze gebildet.
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