Zwischen Spaß und Schrecken
Reden, Einreden, Widerreden des Schauspielers Jürgen Holtz
Wer Schauspiel betreibt, übertritt ein religiöses Urgebot: Du sollst dir kein Bildnis machen! Vom Bildnis aber lebt Theater. Und just der Narr ist Gott. Die Schöpfung als Stunde der Gaukler. Das beinah Mörderische am luftigen Beruf der lustigen Person: Theater, obwohl ein Ort begehrten Rollenwechsels, stellt den Menschen unbarmherzig bloß. Draußen ist es leicht, sich zu verstellen, auf der Bühne aber ist es unmöglich - wenn man gut sein will. Im Leben wurde es längst zur Hauptaufgabe, nur ja nicht erkennbar zu sein - auf den mythisch umraunten Brettern jedoch wird des Menschen Wesen manifest, ob er will oder nicht.
Jürgen Holtz drückt es so aus: »Wir leben in einer lächerlichen Situation, auf die wir ernsthaft reagieren können. Das ist Komik. Der Komiker ist das ewig unmögliche Individuum. Wenn ich das Unmögliche darstellen kann, wird mein Leben möglich, es wird erträglich.« »He, Geist! Wo geht die Reise hin?« heißt das Buch mit »Reden. Einreden. Widerreden« des Schauspielers. Ansprachen, in denen er für Preise dankt; Aufsätze über die Arbeit an Rollen; Erinnerungen an Große wie etwa Benno Besson; zu Gesprächen traf er sich mit Thomas Knauf (2014) sowie mit Sue-Ellen Case und Helen Fehervary (1980).
Holtz, 1932 in Berlin geboren, spielte bei Adolf Dresen und Ruth Berghaus, bei Einar Schleef und Robert Wilson, bei Heiner Müller und Werner Schroeter, bei Jürgen Gosch und Wolfgang Engel. Deutsches Theater, Volksbühne, über zehn Jahre Westen, nunmehr Claus Peymanns Berliner Ensemble: alle künstlerischen Stationen als Odyssee eines störrisch Gierigen nach Selbstbelehrung und Selbstfindung.
DDR, BRD, vereintes Deutschland - in jeder politischen Realität lauern ihm Gründe für Zweifel, Zorn. Und also Gründe für Phantasien, die verändernd eingreifen wollen ins Wirkliche. Theater ist ihm ein Ausdruck für »die Gemeinschaft der Menschen«; ein Auftrag, immer wieder so gründlich gefährdet, durch die taffe, technisch versierte »Gemeinschaft der Selbstbestimmten und der Authentischen«. Deren praktisch veranlagter Geist auf Eroberung, Verdrängung, Auswechselbarkeit aus ist, nicht auf Eigensinn und Widerstand.
Dieses Buch erzählt, ohne Pose und Überhebung: Schauspieler sind die verwundbarsten Kinder der Kunst, sie sind Ausgesetzte, sie wissen nicht, was ihre Wirkung ausmacht, sie sehen nicht, was sie schaffen, sie sind Musiker und Instrument zugleich. Schauspielerei, so bekräftigt Holtz, bedeutet Enthüllung des uns Eingeborenen. Und dieses Eingeborene, es hat damit zu tun, die Bühne immer wieder als einen Ort zu preisen, wo der Mensch verhältnismäßig ungeniert darüber Auskunft geben darf, dass er nicht fliegen kann. Im Leben dürfen wir das nicht immer so frank und frei gestehen. Parteien zum Beispiel haben Flügel und sehen doch sehr nach Bodenhaltung aus; Menschen schwingen sich auf, kommen damit zwar hoch - und sehen doch kein Stück wahren Himmel.
Und mit Deutschland hat das besagte Eingeborene ebenfalls zu tun. Einmal sah Holtz im Fernsehen Peter Zadeks »Möwe« von Tschechow. Die Schauspieler wie Tänzer von Seelen. »Ich sah plötzlich Freiheit, die ich nicht hatte. Wie sollte ich wahrhaftig spielen - und nicht Theater! Ich war außer mir. Ich erzählte Schleef davon. Er stotterte: ›Wir sind eben Krüppel, da müssen wir auch Krüppel spielen.‹« In dem Satz ist alles Deutsche drin, alle Requisiten wie in einem Sack. Oder einem Körper: die Stiefel in unserem Kopf, das Regelbuch in unseren Herzen, der Zollstock im Rücken, das Jawoll! auf den Zungen, die Tempo-30-Schilder in den Blutbahnen. Der Wagemut wahrlich im Arsch.
Dagegen schreibt Holtz. Er sagt, die Schule Brechts habe den Kampf verloren. Er stellt fest, unser Leben sei dem »Irrationalismus der Zweckpolitik unterworfen«. Er blickt ernüchtert auf Geschichte: »In der Weimarer Republik schon war die Klassengesellschaft zu Ende. Die Volksgemeinschaft der Nazis war schon die deutsche Massengesellschaft.« Er sieht sich als »das böse Kind«, dem weder Ost noch West moralische Alternativen waren. »Im Sozialismus gab es das doppelte Bewusstsein ... goldene Berge der Illusion und keine Zwiebeln, schlechte Kleidung und Westfernsehen ... einerseits die Fahne rausgehängt und jeder bediente sich und suchte seinen Vorteil, wenn er konnte.« Das Theater, an dem Holtz teilhatte, »fand fast durchweg in einer ideologischen Bruchzone statt: Wo ich hintrat, brach schon der Boden weg.« Und nunmehr, im eifrigen Kapitalismus? »Wird die Kuschelinsel des Schauspiels ausgeraubt und ruiniert, während sie in dem allgemeinen Sumpf der subventionierten Langeweile versinkt«.
Aber Holtz gibt im Zeitalter des privaten zynischen Bewusstseins, in der Ära der Ensemblelosigkeit, im Land der »Angestellten und reaktionären Verhältnisse« die Hoffnung nicht auf. Eine Hoffnung, die immer stolz darauf sein muss, in absehbaren Fristen als Illusion denunziert zu werden. Weil man sie fürchtet. Denn es ist die Hoffnung auf sinnvolle »Arbeit an einer kulturellen Demokratie«. Ein zukünftiges Theater kann »weder rechts noch links, weder sozialistisch noch ökologisch sein. Aber es kann sich begeistern für den Aufstand gegen alle Parasiten. Die Ästhetik des zukünftigen Theaters sollte die des Aufstands sein, nicht die der Unterstützung des Aufstands.«
Er spricht und spielt seit jeher spröd. Er will nicht als Original geliebt werden. Er hasst die Sentimentalität dieser Liebe, die aus dem Publikum kommt. Diese zu nichts verpflichtende Akzeptanz. Je höher er aber die Hürden stellt, desto höher springt die Liebe. Das nennt man eine schöne Erfahrung. Freuenswert. Er ist ein Philosoph, weil er nicht geradeaus denken kann. Er hat Antworten, aber er will sie gleichsam um die Ecke bringen, wo die Fragen lauern wie Mörder - und wo eine Antwort stirbt, wird die Lust geboren, nach anderen möglichen Antworten zu suchen. Holtz geht nicht auf eine Bühne, weil er ein Ziel vor Augen sieht, sondern weil er keines vor Augen sieht. Aber doch eines sehen will. Das treibt. Er griff auch nie zum Stift, weil er Einsichten hatte, sondern weil er uneinsichtig war. Aber er wollte Einsichten gewinnen - und lernte so den Verlust kennen, diesen treuen Begleiter, diesen Teufel und Schutzengel. Das Teuflische ist die Wahrheit, das Schützende liegt im Spiel damit. »Spielkinder« nennt Holtz die Schauspieler. Glücksmomentesammler. Davongekommene. Tänzer »auf dem Hochseil zwischen Spaß und Schrecken«. Ihre Arbeit: »Aufschein von Sinn, Bestätigung von Leichtigkeit«, unsere wichtigsten Drogen für ein hellwaches Gemüt.
»Wir leben wohl nur einmal«, schreibt Holtz. Dieses »wohl«! Vermutung? Gewissheit? Nichts Genaues weiß man nicht. Also: auf alles gefasst sein, aber doch nicht alles fassen und erfassen wollen, nicht alles greifen und begreifen wollen. Fassungslos bleiben können, sonst zeigen sich die Wunder nie. Und die Wunden? »Finden Sie nicht auch, dass das ganze Leben, dieses Gebären und Sterben, bestürzend und unerklärlich ist? Je älter ich werde, desto tiefer ist meine Scheu, meine Rührung ...« Schreibt Holtz - und er zeichnet. Gespenster, Nachtgestalten, traumatische Figuren, Körpersteinbrüche, in leichtem, zitterndem Strich. Bewegungen, zu Leibern erstarrt.
He, Geist! Wo geht die Reise hin? Das ist eine freche Anrede und eine schüchterne Frage. Oder eine schüchternes Anklopfen und eine freche Erkundigung. In einer besonderen Weise hat dieser Schauspieler Respekt vor der Kunst: Er selber ist schließlich nicht die Glühbirne, die ebenso groß zu sein versucht wie der Raum, den sie beleuchten soll. Aber dieser Clown erhellt den ihm gegebenen Spiel-Raum so einleuchtend, dass offenbar wird, wie dunkel es in unserer Welt sein kann. Sein Suchen, seinen Drang kann er sehr drastisch ausdrücken, er will »das Schwein sein, das in die Steckdose guckt und sagt: ›Komm raus, du feige Sau!‹«
Jürgen Holtz: He, Geist! Wo geht die Reise hin?» Reden. Einreden. Widerreden. Verlag Theater der Zeit. Mit zahlr. Fotos. 138 S., Klappbrosch., 25 €.
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