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Neue Definition, alte Probleme

Leistung der Pflegeversicherung künftig auch bei Demenz

  • Ulrike Henning
  • Lesedauer: 3 Min.
Wer ist pflegebedürftig? Fachleute diskutierten am Mittwoch in Berlin über erste Studienergebnisse zum neuen Begutachtungsverfahren und den neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff.

Ab 2017 sollen auch Demenzkranke und Menschen mit anderen kognitiven Einschränkungen Leistungen der gesetzlichen Pflegeversicherung erhalten. Damit werde endlich eine Gerechtigkeitslücke geschlossen, so der Konsens der Vertreter von Sozial- , Wohlfahrts- und Berufsverbänden sowie von Gewerkschaften, die sich 2012 zu einem Bündnis für gute Pflege zusammengeschlossen hatten. Bisher lag der Schwerpunkt der Pflegeversicherung auf der Versorgung von Menschen mit körperlichen Erkrankungen und Behinderungen. Ein neues System mit nunmehr fünf Pflegegraden statt bisher drei Stufen rückt nun den Grad der Selbstständigkeit als entscheidendes Kriterium in den Fokus.

Bevor die neuen Regelungen ins Gesetz kommen, untersuchten zwei Studien, ob das neue Begutachtungsverfahren auch praktikabel ist. Die erste Studie wurde vom Medizinischen Dienst des Spitzenverbandes der Krankenkassen durchgeführt. Deren Vertreter Peter Pick erläuterte das künftige Vorgehen an den verschiedenen Modulen, nach denen der Pflegebedarf eingeschätzt wird. Die Kriterien Mobilität und Selbstversorgung gab es bereits, hinzu kommen weitere, darunter kognitive und kommunikative Fähigkeiten, psychische Problemlagen oder der Umgang mit krankheitsbedingten Anforderungen. Nach Pick hat sich das neue System in der Überprüfung mit 86 Gutachtern bei etwa 1600 Pflegebedürftigen als praktikabel erwiesen. Problematisch könnte es für diejenigen werden, die in Zukunft einen Pflegegrad neu beantragen: Sie würden nach heutigen Kriterien zwar noch eine Pflegestufe bekommen, ab 2017 aber schwerlich einen der höheren Grade, wenn sie keine kognitive Beeinträchtigung haben. Für diejenigen, deren Pflegestufe bereits festgelegt wurde, gilt laut Koalitionsvertrag der jetzigen Regierung ein Bestandsschutz.

In der zweiten Untersuchung wurde das System in stationären Einrichtungen auf seine Wirksamkeit geprüft. Unter dem Strich konnte die Funktionalität nachgewiesen werden, allerdings gibt es auch hier offene Fragen, so Mathias Fünfstück von der beteiligten Universität Bremen. Schon jetzt sei die Einstufung nicht immer »adäquat«: Bewohner könnten sich erholen und ihre Situation sich verbessern. Für solche Fälle gebe es keine Anreize, eine mobilisierende Pflege werde bisher und wohl auch künftig nicht belohnt, sondern eher bestraft. Mit einer niedrigeren Pflegestufe erhielte die Einrichtung weniger Geld.

In der Diskussion war schnell klar, dass die Rahmenbedingungen für die neuen Regelungen überhaupt noch nicht sicher sind. Gestritten wird weiterhin über die personelle und finanzielle Stärkung der Pflege. In der abschließenden Podiumsdiskussion mit Bundestagsabgeordneten kam Pflegeexpertin Elisabeth Scharfenberg von Bündnis 90/Die Grünen zu dem Schluss, dass der hochgelobte, neue Begriff von Pflegebedürftigkeit völlig überfrachtet werde. Offen ist außerdem, woher die zusätzlichen Fachkräfte kommen sollen. Schon heute fehlen 160 000 Pflegerinnen und Pfleger. Und in sieben Bundesländern wird immer noch Schulgeld für die Ausbildung zum Altenpfleger verlangt.

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