Im Wald geboren
Die Batwa, ein vergessenes Volk in Uganda
Alice Nyamihanda stammt aus dem Volk der Batwa. Ihre Vorfahren haben Jahrtausende lang im heutigen Grenzgebiet von Uganda, Ruanda und der Demokratischen Republik Kongo als Sammler und Jäger im Wald gelebt. Auch Alice wurde noch im Wald geboren, wenige Jahre bevor die ugandische Regierung die Batwa vertrieben hat, um einen Nationalpark einzurichten. Auf einmal mussten die Waldmenschen sesshaft werden, obwohl ihnen die Landwirtschaft genauso fremd war wie das städtische Leben. Trotzdem ist es Alice gelungen, als erste ihres Volkes einen Universitätsabschluss zu machen.
Es gibt Nachrichten, die von der Weltpresse ignoriert werden. Die Vertreibung der ugandischen Waldmenschen ist so eine ignorierte Nachricht. Es gibt Völker, die von der Menschheit vergessen werden. Die Batwa sind so ein vergessenes Volk. »Meine Mama hat mir erzählt, wo ich zur Welt gekommen bin«, sagt die 27-jährige Alice Nyamihanda. »Das war auf dem Weg. Deshalb heiße ich Nyamihanda. Übersetzt bedeutet das: Eine, die auf dem Weg geboren wurde.«
Die Landschaft im Südwesten Ugandas ist geprägt von grünen Tälern und Hügeln. Immer wieder eröffnen sich spektakuläre Blicke auf riesige Urwaldflächen, in denen Alice ihre ersten Lebensjahre verbracht hat. »Damals lebte ich mit meinen Eltern und meinen Großeltern im Mgahinga Wald, der heute Mgahinga Nationalpark genannt wir. Wir wohnten in Höhlen. Andere Batwa hatten Häuser aus Gräsern und Blättern. Wenn jemand gestorben ist, sind wir an einen anderen Ort gezogen.«
Viele Anthropologen bezeichnen Ostafrika als die Wiege der Menschheit. Die Batwa sind das älteste bis heute existierende Volk der Region. Sie haben diese Wälder schon vor Tausenden von Jahren bevölkert. Bis vor Kurzem hatten sie nahezu keinen Kontakt zur modernen Zivilisation. »Wir hatten keine Elektrizität«, erinnert sich Alice. »Aber wir hatten Feuer. Meine Eltern brauchten keine Streichhölzer. Die Batwa wissen, welches Holz man aneinander reiben muss, um Feuer zu machen.«
Ugandas wichtigste Devisenquelle ist der Tourismus. Eine Hauptattraktion sind teure Safaris zu den Berggorillas. Die Tiere können im Regenwald beobachtet werden, aus dem die Batwa im Jahr 1991 von Soldaten der ugandischen Armee vertrieben wurden. Alice meint: »Den Politikern sind die Gorillas wichtiger als die Batwa.«
Heute arbeitet Alice für die Nichtregierungsorganisation UOBDU, die Vereinigte Organisation für die Entwicklung der Batwa in Uganda. Seit der Vertreibung hat sich für viele Batwa wenig verändert. Die meisten leben noch immer als heimatlose Flüchtlinge. »Unsere Kinder können nicht einmal zur Schule gehen«, klagt Alice. »Manche wollen lernen, aber sie kriegen nichts zu essen. Es ist schwierig, hungrig in die Schule zu gehen.« Auch die Situation der Familie von Alice schien aussichtslos zu sein. Doch sie hatte Glück. Eine kirchliche Hilfsorganisation bot Unterstützung an. »Uns geht es nicht wirklich besser als den meisten anderen Familien, aber zumindest haben wir ein wenig Hilfe bekommen. Dadurch lernten meine Verwandten ein paar neue Dinge. Sie haben mit der Landwirtschaft begonnen. Langsam ändert sich etwas.«
Und Alice bekam ein Schulstipendium. »Niemand in meiner Familie kann schreiben. Im Wald gab es keine Schule. Dort hatten wir eine informelle Bildung. Die Erwachsenen haben sich zu den Kindern gesetzt und ihnen von ihrer Kultur erzählt.« Die Familie von Alice lebt in der Nähe des Dorfes Gatela, etwa zwei Autostunden von Kisoro entfernt. Den letzten Kilometer muss man zu Fuß laufen. Bunt blühende Bougainvilleen wachsen im Schatten riesiger Zedernbäume. Die Gegend ist so fruchtbar und reich an Flora und Fauna wie nur wenige andere Gebiete des Kontinents. Hier wird deutlich, weshalb viele Touristenführer Uganda als »die Perle Afrikas« preisen.
Aber die Batwa bekommen nicht viel ab von dem Reichtum. Die Mutter von Alice und die Familien ihrer Geschwister leben in einer kleinen Hütte aus Holzwänden und mit Strohdach. Alice war das erste Mädchen aus dem Volk der Batwa in Uganda, das einen Sekundarschulabschluss geschafft hat und fließend Englisch spricht. So kann sie für ihre Mutter übersetzen: »Sie sagt, sie vermisse den Wald sehr. Meine Geschwister müssen für fremde Leute arbeiten, damit die ihnen was zu essen geben.«
Längst nicht alle Batwa-Eltern erlauben, dass ihre Kinder zur Schule gehen, aber Alice wollte lernen und ihre Eltern waren einverstanden. »Meine Mutter ist froh, dass ich zur Schule gegangen bin. So kann ich ihr heute Nahrung beschaffen, wenn sie nicht genug zu essen hat. Wenn sie Seife, Kerzen oder solche Dinge braucht, kriegt sie die von mir. Sie wünscht sich, dass auch ihre Enkel die Schule abschließen. Dann können sie eine Anstellung bekommen und so leben wie die Menschen in der Stadt.«
Zwei Kilometer entfernt liegt die Grundschule, die Alice als Kind besucht hat. »Viele Kinder wohnen in der Schule, weil sie zu Hause nichts zu essen bekommen. Kinder, die einen Sponsor haben, bleiben immer in der Schule. Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie ich von den anderen Kindern und vielen Lehrern diskriminiert wurde. Sie waren Bahutu und mochten uns Batwa nicht. Es war eine schwere Zeit. Ich hatte nichts anzuziehen und musste die schäbige Jacke meines Vaters tragen. Die anderen haben gesagt: ›Neben der wollen wir nicht sitzen.‹ Manchmal haben sie mich geschlagen.«
Nach ihrem Schulabschluss schaffte Alice es sogar bis zur Universität. »Ich wollte den Leuten, die mich diskriminiert haben, beweisen, dass wir Batwa so sein können wie sie, dass auch wir etwas erreichen können. An der Universität in Kampala wusste niemand, dass ich aus dem Volk der Batwa stamme. Ich habe sogar Vorträge gehalten. Ich habe mich einfach hingestellt und habe gesprochen. Und ich war Klassensprecherin. Wir waren auf Augenhöhe.« Nach ihrer Zeit an der Universität entschied sich Alice, nach Kisoro zurückzukehren. Mit ihrem Diplom in Entwicklungsstudien will sie dazu beitragen, den Lebensstandard ihres Volkes zu verbessern: »Eines Tages wird es auch Batwa geben, die sich in der Politik engagieren. Dann wird sich die Regierung mehr um uns kümmern.«
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.