Hinter unsichtbaren Gittern
Ein Audiorundgang informiert über das ehemalige Berliner Frauengefängnis in Friedrichshain
Über die Straße. Einmal nach links und rechts geschaut. Jetzt über die Kreuzung. Aber nur bei grün. Vorfahrt beachten. Kopfhörer aufgesetzt. Und schon taucht man ein in eine andere Welt. In eine graue, harte Welt voller Regeln und Verbote, so wie sie hier an dieser Stelle noch bis vor rund 40 Jahren bestand: Akustisch befindet man sich jetzt in dem Mikrokosmos eines Gefängnisses. Faktisch steht man auf dem Areal der Jugendverkehrsschule in der Barnimstraße 10 in Friedrichshain. Visuell erinnert hier heute nichts mehr an das zentrale Berliner Gefängnis für Frauen, das just an dieser Stelle von 1864 bis 1974 seinen Sitz hatte.
Vor Ort sieht man Übungsstraßen mit radelnden und Skateboard fahrenden Kindern. Alte Mauern, Stacheldraht oder Überreste von Zellentrakten sucht man hingegen vergebens. Der Gebäudekomplex aus wilhelminischer Zeit wurde komplett abgerissen und planiert. Der historische Ort geriet über die Jahre in Vergessenheit. Doch seit vergangenem Samstag treten die unsichtbaren Gefängnismauern nun wieder aus dem Verborgenen heraus. Nicht visuell, sondern rein akustisch. »An dem Ort fasziniert und interessiert mich am Meisten, dass hier ganz verschiedene Systeme und individuelle Perspektiven zusammenkommen. Es ist ein Ort der Gegensätze«, erklärt Christoph Mayer, Künstler und Entwickler des »Gangs durch die Wahrnehmungswelten von Frauen in fünf politischen Systemen«.
Zusammen mit seinem Team aus Tonmanagern, Soziologen und Historikern hat der Künstler den Audiorundgang entwickelt. Das Projektkonzept ging im April 2008 als Sieger aus einem von Senat und Bezirk ausgelosten Wettbewerb für eine Gedenkstätte in der Barnimstraße hervor. Die Idee dahinter: Ohne die aktuelle Nutzung als Verkehrsschule einzuschränken oder zu verändern, soll der Ort als historische Gedenkstätte erlebbar gemacht werden. Geführt von einer Stimme über die Kopfhörer, kann sich der Besucher im geschichtlichen Gefängnisraum bewegen. Informationstafeln, Markierungen oder Lagepläne gibt es nicht. Bis auf einige wenige eingespielte historische Kommentare soll man unmittelbar in die Wahrnehmungswelten der Frauen, die im Laufe der Geschichte einst Insassinnen in dem Gefängnis waren, hinein versetzt werden. So sollen die unterschiedlichen Epochen Kaiserreich, Weimarer Republik, Nationalsozialismus und DDR mit ihren spezifischen Gesetzen und kulturellen Rahmenbedingungen aus der Sicht der in der jeweiligen Zeit eingesperrten Frauen erzählt werden.
»Der Audioweg ist der Versuch, mit den Augen der Betroffenen zu sehen und sich inmitten der Wahrnehmungen und Werteordnungen der einzelnen Frauen in ihrer Zeit wieder zu finden«, so der aus Wien stammende Künstler. Zusammen mit der Psychologin Clava Grimm hat Mayer Interviews mit Zeitzeuginnen aus den verschiedenen politischen Systemen geführt. Mit Hilfe von Dokumenten und Archivmaterialien wurden zudem Erinnerungen aus den weit zurückliegenden Zeitperioden des Kaiserreichs und der Weimarer Republik vertont. Eine der Zeitzeuginnen, an deren Schicksal man während des Audiogangs teilnimmt, ist Inge Stürmer. In der DDR wurde die damals junge Frau in dem Gefängnis als sogenannter »Republikflüchtling« eingesperrt, nachdem sie versucht hatte, in die Bundesrepublik zu fliehen. »Vieles von dem hier Erlebten war einfach schon lange vergessen. Das Interview hat die Erinnerung zurückgebracht«, sagte Stürmer bei der feierlichen Eröffnung am Samstag.
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