»Noch nie so viele Frauen gesehen«
Ein Streiktagebuch aus Saarbrücken, neunter Eintrag
Ein Vater zweier Kinder, der an der Frankfurter Paulskirche seine Solidarität bezeugt, staunt, als in einem bunten Zug etwa 16 000 Angestellte aus den kommunalen Sozial- und Erziehungsdiensten an ihm vorüberziehen: So viele Frauen hat er noch nie auf einmal gesehen. Die paar Männer, die für ein »Frauengehalt« zu arbeiten bereit sind, fallen kaum auf. Beim Zug durch das Bankenviertel zeigt sich nur einmal jemand am Fenster. Vermutlich lassen sich in den klimatisierten Hochhäusern die Fenster nicht einmal öffnen. Dieses Gefühl, dass unsere Arbeit nicht interessiert, drückt der Mitarbeiter einer psychiatrischen Klinik von der Bühne auf dem Römer herab drastisch aus: »Auf die Arbeit mit Menschen wird geschissen!«
Wer weiß schon, wie es ist, in der Psychiatrie immer mehr Patienten mit komplexen Problemlagen bei immer kürzeren Behandlungszeiten zu betreuen (Drehtürpsychiatrie)? Oder sich um Wohnungslose, um unbegleitete minderjährige Flüchtlinge zu kümmern? Wen interessiert es, wenn es in den Jugendämtern nur noch um Abwicklung und Schadensbegrenzung geht, weil Personal und Zeit fehlen? »Willkommen im Jugendamt. Come in and burn out« steht auf einem T-Shirt. Eine 28-Jährige, die seit fünf Jahren mit Kindern arbeitet, sagt, sie könne sich einen Verbleib im Beruf bis zur Rente unter den heutigen Bedingungen nicht vorstellen. »Wozu neue Kitas bauen, wenn Fachkräfte fehlen?« lese ich auf einem Plakat.
Die kommunalen Arbeitgeberverbände in der VKA scheuen unsere Nähe und tagen am Frankfurter Flughafen. Immerhin erfahren die Elternvertreter während der Kundgebung, dass sie ihre 50 000 Solidaritätsunterschriften doch noch übergeben »dürfen«. Sandy Kirchner von der Bundeselternvertretung spricht ins Mikrofon: »Wir fahren da jetzt hin ... Wir wollen unsere Erzieherinnen zurück«.
Eine so große Streikbereitschaft gut ausgebildeter, im Umgang mit ihren Mitmenschen (und damit politisch) wacher, kreativer, intelligenter Menschen beeindruckt hoffentlich die Herren in der VKA, und sie legen ein Angebot vor, das nicht die Hälfte der Streikenden leer ausgingen ließe.
Hier einige Vorschläge, wie eine Aufwertung für alle zu finanzieren wäre: Eine tägliche Kernzeit frühkindlicher Bildung wird durch den Bund finanziert, »Randzeiten« durch die Kommunen. Finanzierung durch die Andersverwendung der »Zu-Hause-Prämie«. Durch höhere Vermögens- und Erbschaftssteuern. Durch die gigantischen Mehreinnahmen, die die aktuelle Steuerschätzung erwartet. Die nächste Woche wird verhandelt - und gestreikt. Die Äußerungen der VKA klingen nicht danach, dass der Konflikt bald beendet sein wird. So gern ich optimistischer schließen würde, die Eltern müssen sich auf weitere Streiktage einstellen.
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