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  • 13. nd-Lesergeschichten-Wettbewerb

Der Jungbrunnen

  • Rosel Ebert, Berlin
  • Lesedauer: 4 Min.
Sie habe vieles im Leben gemacht, unter anderem als Psychologin gearbeitet, sagt die 72-Jährige. Schreiben sei für sie immer ein Ausgleich gewesen. Als sie das Thema des Wettbewerbs in der Zeitung las, sprach es ihr regelrecht aus der Seele. »Ich wollte mit meiner wahren Geschichte all jenen einmal Danke sagen, die uneigennützig dazu beitragen, anderen das Leben zu retten.«
Sie habe vieles im Leben gemacht, unter anderem als Psychologin gearbeitet, sagt die 72-Jährige. Schreiben sei für sie immer ein Ausgleich gewesen. Als sie das Thema des Wettbewerbs in der Zeitung las, sprach es ihr regelrecht aus der Seele. »Ich wollte mit meiner wahren Geschichte all jenen einmal Danke sagen, die uneigennützig dazu beitragen, anderen das Leben zu retten.«

Warum gerade ich?« Da taucht sie wieder auf, diese bedrückende Frage, auf die es keine Antwort gibt. Eine Frage der Frau von Mitte 40, die schon zum dritten Mal ihre Lebensträume begraben muss. Fast auf den Tag genau vor vier Jahren wurde sie, wie aus heiterem Himmel, zum ersten Mal mit der schrecklichen Diagnose Leukämie konfrontiert.

Wie viel Kraft gehörte dazu, wie viel Engagement der Ärzte und Schwestern, wie viel Zuspruch und Einfühlungsvermögen der ganzen Familie, um sich der Behandlungstortur zu stellen, ohne den Mut zu verlieren. Und immer wieder darauf zu hoffen, dass die Werte sich bessern. Das Wort »warten« bekam für sie etwas Unerträgliches. Doch da waren ihr Lebenswille und die noch nicht ganz erwachsenen Kinder, die ihre Mutter brauchten. So schaffte sie schließlich, was zeitweilig fast einem Wunder glich. Das Leben lag vor ihr - zwar mit einem Achtungszeichen versehen -, aber die Neugier und der Spaß hatten sie ebenso gepackt wie die Pflichterfüllung. »Ich lebe!« - zwei Worte, die nun eine ganz andere Bedeutung bekamen.

Zwei Jahre später kam der furchtbare Schmerz. Wieder vollkommen ohne Vorwarnung. So, als wolle die linke Hüfte zerbrechen. Nein, es war nicht die noch immer wie ein Damoklesschwert über ihr schwebende Leukämie. »Hüftgelenktuberkulose«, hörte sie die Ärzte sagen. Und sah das Achselzucken, wenn sie nur zu berechtigt wissen wollte: »Wieso? Woher?« Und wieder die Frage: »Warum gerade ich?« War ihr Körper so geschwächt, dass sie sich nur noch im Glashaus aufhalten kann?

Sie griff nach einem Strohhalm: Tuberkulose ist besser heilbar als Leukämie. Die Fürsorge der Familie tat ihr Übriges. Ein Jahr dauerte die Therapie mit einer Unmenge von Medikamenten, deren Nebenwirkungen so manches Mal an Abbruch denken ließen. Dann war auch das geschafft. Das Auf und Ab der Gefühle hat sie nur wenigen Vertrauten gezeigt. Sie wollte stark sein und optimistisch - für sich selbst, für ihre Kinder und für alles, was die Zukunft bereithielt. Sie wollte und konnte das Leben genießen. Bis zu dem schwarzen Tag, an dem der Satz an ihr Ohr drang: »Die Leukämie ist zurückgekehrt!«

Niemand kann nachempfinden, was das für einen Menschen bedeutet, der gerade versucht, an dem Wunder einer Heilung festzuhalten. Die Angst, die stets in ihrem tiefsten Inneren geblieben war, droht erneut um sich zu greifen. Und doch - ein Weg steht ihr noch offen: die Stammzelltransplantation. Fast klingt es wie ein Zauberwort. Leben oder Sterben? Eine Wahl hat sie nicht. Die Aufklärung über die einschneidende Prozedur der Vorbereitung nimmt sie nach all dem, was hinter ihr liegt, fast sachlich auf. Von diesem Moment an bewegt sie nur noch die eine Frage: »Wo kommt der Spender her?«

Sie erfährt, dass von der Familie niemand infrage kommt. Was bleibt, ist die weltweite Stammzellspenderdatei. Hoffen und wieder warten. Die Ärzte verbreiten Optimismus. Kann man ihnen trauen? Tatsächlich dauert es nur wenige Wochen, bis ihr mitgeteilt wird, dass drei mögliche Spender gefunden sind. Inzwischen ist es kurz vor Weihnachten. Noch im Dezember soll sie ins Krankenhaus. Es wird ein Weihnachtsgeschenk. Dann die Absage: Der Spender ist krank! Wie tief die Enttäuschung sitzt, weiß nur sie. Aber die Rede war von drei Spendern. Bleiben noch immer zwei. Die Ärzte vertrösten sie.

Das alte Jahr geht dem Ende zu, im neuen wird es klappen, bestimmt! Anfang Januar die Ernüchterung: Der nächste ist arbeitsbedingt verhindert! Was nun? »Bei dem Glück, das sie hat, wird es auch mit dem dritten nichts!« Eine Schlussfolgerung, die ihr keiner verdenken kann.

Noch fast zwei Monate werden vergehen, bis dann tatsächlich die Stammzelltransplantation erfolgen kann. Die Zellen kommen aus dem Norden Deutschlands, wird ihr gesagt. Manchmal passiert auch auf dem Transport noch etwas Unvorhergesehenes. Was für Gedanken! Das bange Warten nimmt kein Ende. Dann sind die lebensrettenden Zellen da.

Später erfährt sie, dass diese Zellen von einer jungen Frau stammen, nicht viel älter als ihre Tochter. Innerhalb der ersten zwei Jahre dürfen sie anonym miteinander korrespondieren. Die Verbindung ist lose, ein wenig verklemmt. Dann liegt plötzlich in ihrem Briefkasten die Einladung der Deutschen Stammzellspenderdatei zu einer Tagung, auf der sie ihre Spenderin kennenlernen kann. Aufgewühlt fährt sie hin. Inzwischen sind ihr der Name und einige andere Details von ihrem »zweiten Ich« bekannt. Als sie der hübschen jungen Frau begegnet, ist alle Scheu verschwunden.

Sie wollen so viel voneinander wissen. Die Stammzelltypisierung, hört sie nun, lag nur wenige Monate zurück. Was für ein Glück! Ihre innere Stimme scheint zu sagen, dass am Ende nichts Besseres hätte passieren können, als Stammzellen von einer solchen Spenderin zu erhalten. Irgendwie kommt es ihr vor, als sei sie in einen Jungbrunnen gestiegen.

Rosel Ebert aus Berlin »Der Jungbrunnen« [anhören]

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