Fast wie damals im Gezi-Park
Die 13-jährige Alleinherrschaft der AKP ist vorbei und die Zukunft ungewiss
Ein bisschen fühlt es sich an diesem Sonntagabend an wie bei den Gezi-Protesten. Ein paar hundert Türken singen und tanzen sich durch den Istanbuler Stadtteil Beyoglu. Aus einem Fenster flattert Konfetti. Drei jungen Frauen schleppen einen Transvestiten mit blonder Perücke auf ihren Schultern. »Wir sind alle HDP, wir gehen ins Parlament«, skandieren sie. Ein paar Dutzend Meter weiter stehen Polizisten um einen einsamen Wasserwerfer. Doch an diesem Wahlabend fliegen im ganzen Land nur Küsschen, keine Tränengasgranaten.
Die Türkei hat gewählt. Und wie! Die 13-jährige Alleinherrschaft der AKP: vorbei. Die antidemokratische Sperrklausel von zehn Prozent: überwunden. Eine linke und prokurdische Partei: im Parlament. Der Umbau des politischen Systems nach den Wünschen von Präsident Recep Tayyip Erdogan: gestoppt. Die Wahlbeteiligung: unglaubliche 85 Prozent. Zum Vergleich: In der BRD hat es das zuletzt vor 28 Jahren gegeben.
Über 13 Prozent hat die Halklarin Demokratik Partisi (HDP) bei der Parlamentswahl am Sonntag geholt, die damit die kleinste der vier Fraktionen im zukünftigen Parlament von Ankara stellt. Doch beim Feiern sind sie die Größten: Zehntausende jubelten die ganze Nacht in Diyarbakir im kurdischen Südosten und schüttelten all die Ängste ab, die es vor der Wahl vor weiteren Anschlägen und Betrugsversuchen gegeben hatte. »Viele hatten auf dieses Ergebnis gehofft, aber wirklich geglaubt, dass so etwas möglich ist - das hatte wohl keiner«, sagt der 54-jährige Adnan Simsek. »Der Krieg ist vorbei. Der Krieg ist vorbei«, ruft er, bevor sich die nächste Gruppe tanzender Menschen bei ihm unterhakt.
Die Partei, deren Protagonisten von Erdogan im Wahlkampf immer wieder als »Terroristen« bezeichnet wurden, hat sich gewandelt: Mit der Energie der Gezi-Park-Bewegung im Rücken wurde sie zu einer Sammelbewegung für alle, die genug von 13 Jahren AKP-Herrschaft und der autoritären Politik ihres Präsidenten hatten: Linke, Liberale, Umweltaktivisten, offen Homosexuelle, Behinderte und Armenier standen auf ihren Stimmzetteln und ziehen nun ins Parlament von Ankara ein.
So laut es Sonntagabend überall im Land war, so leise ist es am Montag um Erdogan. Der Präsident stand in den Wochen des Wahlkampfes fast täglich auf irgendeiner Bühne, auf der er von Amts wegen gar nicht hätte stehen dürfen. Für seine Kritiker stand er für sinnlose Großprojekte, Großmachtansprüche und eine immer größer werdende soziale Ungleichheit sowie Korruptionsskandale von Regierungsmitgliedern. Die meisten Türken stimmten dennoch für seine AKP.
»Wir haben gewonnen«, sagt am Montag der Premierminister und AKP-Chef Ahmet Davutoglu im türkischen Fernsehen. Und bei allen historischen Superlativen gehört auch diese Feststellung zum Wahltag: Er hat recht. Mit großen Abstand hat die AKP die meisten Stimmen geholt. Nach wie vor ist die AK Parti die einzige Kraft, die im ganzen Land Wähler hinter sich versammeln kann. Auch viele Kurden gaben ihr ihre Stimme. Dass im Osten nach Jahrzehnten der brennenden Dörfer und donnernden Kampfflugzeuge zwar kein Frieden, aber zumindest so etwas wie Normalität einkehrte, rechnen viele Wähler ihr zu. Wahrscheinlich wäre sogar der Aufstieg der HDP ohne diese Politik nicht möglich gewesen. Deren Co-Chef Selahettin Demirtas bat am Wahlabend seine Anhänger, nicht zu viel zu feiern. Aber das interessiert in Beyoglu niemanden. Aus einem Club kommen ein paar gut trainierte Anzugträger mit kaum bekleideter Begleitung auf die Straße. Der Transvestit hat mittlerweile eine Palästina-Fahne in der Hand. »Nicht nur die HDP, die Demokratie hat gewonnen«, sagt die 23-jährige Elif Okar. Eigentlich interessiere sie sich nicht für Politik, »aber das hier ist mehr Politik«.
Welche Politik diese neu gewonnene Demokratie letztendlich hervorbringen wird, weiß an diesem Abend niemand. Galt angesichts des von der AKP initiierten »Friedensprozesses« mit den Kurden vor Monaten noch die HDP als sichere Partnerin, ist dies nach dem harten Wahlkampf so gut wie ausgeschlossen. Das Problem nur: Alle anderen Koalitionen scheinen es auch. AKP - CHP? »Niemals«, sagt CHP-Chef Kemal Kilicdaroglu am Montag. AKP - MHP? »Nein«, so MHP-Chef Devlet Bahceli. Die realistischste Option kündigte Ahmet Davutoglu am Wahlabend an: Die AKP werde sich »vor keiner Macht verbeugen«. Das bedeutet: Neuwahlen.
Und da ist doch eine Möglichkeit, die an diesem Abend in Istanbuls tränengasfreier Luft schwebt. Eine Koalition aus den anderen drei Parteien. Völlig absurd, und dennoch hört man ihren Namen immer wieder: HDP-MHP-CHP. Es wäre die endgültige Entmachtung der AKP. Eine genauso ungewöhnliche Zweckgemeinschaft hat schon einmal die Türkei verändert: damals im Gezi-Park.
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