Koalitionsspiele als Knobelaufgabe
In der Türkei wird es keine schnelle Regierungsbildung geben
Am Sonntag gingen über 46 Millionen türkische WählerInnen an die Wahlurnen und bescherten den Parteien ein Ergebnis, das eine schnelle Regierungsbildung schwermachen dürfte. Dabei sieht es auf den ersten Blick gar nicht so kompliziert aus: Hatte nicht die regierende Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) verloren, und die Opposition hätte gemeinsam eine Mehrheit im Parlament? So einfach ist es nicht, nicht zuletzt weil die Oppositionsparteien sehr gegensätzlich sind.
Doch zuerst die harten Fakten: Die bisherige Regierungspartei AKP verlor neun Prozent der Stimmen gegenüber den letzten Parlamentswahlen im Jahr 2011 und landete auf bei 41 Prozent. Die größte Oppositionspartei des Landes, die Republikanische Volkspartei (CHP) blieb nahezu unverändert bei 25 Prozent. Die rechtsextreme Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) konnte leicht dazulegen und errang 16 Prozent der Stimmen. Die linke und prokurdische Demokratische Partei der Völker (HDP) trat zum ersten Mal als Partei an und erhielt 13 Prozent. Weiteren Parteien versperrte die Zehn-Prozent-Wahlhürde den Weg ins Parlament.
Wenn es allein nach der Zahl der nötigen Sitze im Parlament gehen würde, wären nach diesen Ergebnissen mehrere Koalitionen denkbar, sowohl mit der Regierungspartei AKP als auch eine Koalition der bisherigen Oppositionsparteien. Aber Politik ist nicht die Addition von Abgeordnetenzahlen. Inzwischen sind über die türkischen Medien Aussagen der Parteien durchgesickert, die bestimmte Koalitionen als unrealistisch erscheinen lassen.
Eine Option, die vielfach von ausländischen JournalistInnen ins Spiel gebracht wird, scheint ausgeschlossen zu sein, nämlich eine Koalition aller Oppositionsparteien im Parlament. Eine CHP/MHP/HDP-Koalition, die sich manche Gegner der AKP wünschen, wird es wohl nicht geben. Zu unterschiedlich sind die Haltungen der rechten MHP und der linken HDP etwa bei der Frage, wie mit dem Friedensprozess zwischen der Türkei und der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) umzugehen ist. Die MHP fordert das Ende jeglicher Gespräch mit der PKK sowie ein militärisches Vorgehen gegen die »Terroristen«, wie die MHP die PKK-Kämpfer bezeichnet. Die MHP hat diesen Punkt inzwischen zu einer »roten Linie« einer Regierungsbeteiligung ihrerseits erklärt. Damit sind Variationen dieser Idee, sei es eine CHP/MHP-Koalition mit Tolerierung seitens der HDP oder eine CHP/HDP-Koalition mit MHP-Duldung, ebenfalls unrealistisch.
Damit ist es wahrscheinlich, dass die nächste Regierung unter der Führung der AKP gebildet wird. Jedoch ist bisher von der AKP wenig durchgesickert, weil alle relevanten AKP-PolitikerInnen auf ein Zeichen vom Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan warten. Doch der Staatspräsident hat sich seit der Wahl kaum geäußert, außer einer knappen schriftlichen Mitteilung, dass die Parteien jetzt eine Verantwortung für Stabilität tragen.
Das Schweigen bei der AKP macht Prognosen zu ihrem Verhalten schwierig, aber eine Koalition mit der HDP lässt sich wohl ausschließen; zumal die HDP mehrfach und deutlich jegliche Koalition mit der AKP abgelehnt hat. Die MHP, die unmittelbar nach der Wahl ebenfalls eine Absage Richtung AKP gesendet hatte, stellte inzwischen Forderungen für eine mögliche Koalition mit der AKP auf. Insbesondere die MHP-Forderung, dass die AKP ihr Projekt eines Präsidialsystems aufgeben sollte, dürfte aber für Schwierigkeiten mit dem jetzigen Staatspräsidenten Erdogan sorgen. Hier kommt es darauf an, ob die MHP diese Forderung aufrecht erhält und ob sich das Erdogan-Lager innerhalb der AKP durchsetzen kann.
Im Sinne eines gemeinsamen politischen Lagers wäre eine AKP/MHP-Koalition vorstellbar, weil die gesellschaftlichen Vorstellungen beider Parteien sich durchaus nahe sind. Weniger wahrscheinlich ist eine AKP/CHP-Koalition, nicht zuletzt weil dies für die bisherige Hauptoppositionspartei CHP das politische Aus bedeuten könnte. Die CHP hat seit 2011 kaum Anhänger gewinnen können und eine Koalition mit der bisherigen Erzfeindin AKP dürfte viele jetzige WählerInnen abschrecken.
Angesicht dieser schwierigen Koalitionsrechenspiele kommen andere Optionen ins Gespräch. So ist es inzwischen durchaus möglich, dass die 45 Tage, innerhalb deren eine Regierung gebildet werden muss, verstreichen. Die Verfassung sieht für diesen Fall Neuwahlen vor.
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