Triebkraft sind deutsche Exportinteressen
Heike Hänsel über die Lateinamerikapolitik der EU, den Einfluss der Bundesregierung und die Notwendigkeit eines Kurswandels
nd: Die USA und Kuba arbeiten seit Mitte Dezember an der Normalisierung ihrer Beziehungen. Zieht die EU nach und stellt in Brüssel ihren »Gemeinsamen Standpunkt« von 1996 zur Disposition, der einem Systemwechsel in Havanna das Wort redet?
Hänsel: Es ist überfällig, dass die EU endlich diesen »Gemeinsamen Standpunkt« fallen lässt. Wir fordern das seit Jahren. Offensichtlich ist die EU von der politischen Initiative der USA vergangenes Jahr überrascht worden. Die EU hinkt bei einer Neujustierung ihrer Kuba-Politik weit hinter den USA hinterher. Vor allem Deutschland steht auf der Bremse. Das haben wir auch bei unserer Delegationsreise nach Kuba vor zwei Monaten erlebt: Der deutsche Botschafter hat offenbar noch nicht mitbekommen, dass der Kalte Krieg zu Ende ist. Er verbunkert sich in der deutschen Botschaft, als ob er sich in Feindesland befinden würde und formuliert das auch so. Dabei haben 16 EU-Staaten bereits bilaterale Abkommen mit Kuba geschlossen. Insofern wäre es ein wichtiges Zeichen, auf dem Gipfel nun den »Gemeinsamen Standpunkt« ad acta zu legen.
Kuba ist Teil der Gemeinschaft der Lateinamerikanischen und Karibischen Staaten (CELAC). Drängt die CELAC auf Bewegung in Sachen »Gemeinsamer Standpunkt«?
Auf alle Fälle, insbesondere die lateinamerikanischen Staaten. Auf dem diese Woche vor allem von Kuba und Venezuela organisierten Alternativgipfel wird die Forderung nach Aufhebung des »Gemeinsamen Standpunktes« erhoben, da er dem Prinzip der Nichteinmischung in innere Angelegenheiten widerspricht. Dennoch bin ich skeptisch, ob sich in Brüssel etwas in dieser Angelegenheit tut, denn offiziell wurde der »Gemeinsame Standpunkt« zu Kuba nicht zum Gipfelthema erklärt.
Heike Hänsel ist entwicklungspolitische Sprecherin der Fraktion DIE LINKE im Bundestag und war jüngst in Mexiko und Kolumbien unterwegs. Unter anderem mit diesen beiden Ländern unterhält die Europäische Union Freihandelsabkommen. Über die Politik der EU und der Bundesregierung in Lateinamerika im Lichte des zweiten Gipfels zwischen der EU und der Gemeinschaft Lateinamerikanischer und Karibischer Staaten (CELAC) sprach mit ihr für »nd« Martin Ling.
Der Vorläufer der EU-CELAC-Gipfel, der EU-LAC-Gipfel, der erstmals 1999 in Rio de Janeiro stattfand, wurde im Kontext des Wettlaufes zwischen den USA und der EU um die lateinamerikanischen Märkte aus der Taufe gehoben. Die Freihandelsabkommen der EU mit Mexiko 2000 und Chile 2002 waren erste Ergebnisse davon. Bei Mexiko wurde eine Menschenrechtsklausel verankert. Von Menschenrechtsverletzungen in Mexiko auch durch staatliche Sicherheitskräfte ist häufig die Rede, von der Klausel hört man nichts. Kam sie überhaupt mal zur Anwendung?
Nicht, dass ich wüsste. Im Gegenteil: Das Globalabkommen von 2000 wird derzeit überarbeitet, ohne dass dabei die aktuelle Menschenrechtssituation in Mexiko berücksichtigt wird. Rund um die Parlamentswahlen am vergangenen Wochenende gab es 20 Tote und mehr als 70 Angriffe auf Politiker und Überfälle unter anderem auf Abstimmungslokale. Beim EU-CELAC-Gipfel gibt es zwar einen Mexiko-Tag. Doch da geht es nur darum, dass das Globalabkommen mit Mexiko an die Standards angepasst werden soll, die gerade bei den Verhandlungen mit den USA zum transatlantischen Freihandelsabkommen TTIP ausgedealt werden, damit der Freihandel ohne Einschränkungen funktioniert. Die EU und die Menschenrechte in Mexiko sind ein beschämendes Kapitel: Die EU konnte sich nicht einmal zu einer gemeinsamen Erklärung nach den tragischen Vorfällen von Ayotzinapa durchringen. Dort sind im September vergangenen Jahres 43 Studenten verschleppt worden. Bis heute wurden nur die sterblichen Überreste von einem gefunden. Die EU sieht Mexiko als Wachstumsmotor für die eigene Wirtschaft. Immer mehr Unternehmen siedeln sich in Mexiko aus der EU an. Wirtschaftsinteressen zählen, Menschenrechte nicht. 98 Prozent aller Morde in Mexiko bleiben unaufgeklärt und ungeahndet. Die EU und die Bundesregierung schweigen dazu.
Die Freihandelsabkommen der EU mit Kolumbien, Peru und Zentralamerika sind seit 2013 ratifiziert. Damals warnten viele Beobachter vor Beschäftigungs- und Einkommensverlusten in Lateinamerika. Gibt es inzwischen belastbare Aussagen?
Ausgiebige Statistiken noch nicht, doch erste Erfahrungsberichte: Anfang des Jahres stattete eine kolumbianische Gewerkschafterdelegation der Linksfraktion einen Besuch ab. Schon jetzt zeichnet sich deutlich ab, dass die Auslandsinvestitionen in den lateinamerikanischen Ländern fast ausschließlich im Bergbausektor und im Energie- und Ölsektor gestiegen sind. Exakt in jenen Bereichen, in denen es schon vorher im Zuge der Erschließung und Expansion zu massiven Menschenrechtsverletzungen, zu Drohungen gegenüber und Ermordungen von Gewerkschaftern gekommen war. Diese Tendenz wird nun nochmals verschärft. Unsere Warnungen blieben ungehört.
Es wurde doch eine sogenannte Roadmap vereinbart, ein Fahrplan, mit dem Menschenrechtsverletzungen Einhalt geboten werden sollte, oder?
Vereinbart schon, doch mit dieser Roadmap ist vor Ort nichts passiert. Die Gewerkschafter sagen, sie haben teilweise nicht mal Kontakte mit den EU-Leuten, die dafür zuständig sein sollten, dass die Roadmap und die Vereinbarung über Arbeitsstandards und sozialökologische Standards eingehalten werden. Überprüfungen sind Fehlanzeige und die Menschenrechtssituation ist nach wie vor katastrophal in Kolumbien. Wie in Mexiko gilt auch hier: Es zählen die Wirtschaftsinteressen und alles andere ist Placebo. Deswegen fordert die Linkspartei, dass wir zu einem neuen Handelssystem kommen müssen, in denen Arbeits- und soziale und ökologische Mindeststandards verbindlich festgeschrieben werden und Vorrang vor Profitinteressen haben müssen.
Unterminiert das Freihandelsabkommen mit Kolumbien durch seine Effekte nicht sogar die in Havanna laufenden Friedensverhandlungen zwischen der FARC-Guerilla und der Regierung in Bogotá, wenn über Auslandsinvestitionen Konflikte in Kolumbien angeheizt werden?
Ja, das ist ein ganz großes Problem, denn im Rahmen der Friedensverhandlungen wurde auch das neoliberale Wirtschaftsmodell diskutiert. Die sozialen Bewegungen, die Zivilgesellschaft, deren Positionen die FARC aufgegriffen hat, haben immer gefordert, dass im Rahmen des Friedensprozesses auch über eine neue Sozial- und Wirtschaftspolitik diskutiert werden muss. Die Landkonzentration in Kolumbien in den Händen weniger ist eine schreiende Ungerechtigkeit. Wir haben in Kolumbien selbst im lateinamerikanischen Vergleich eine der größten Ungleichverteilungen zwischen Armut und Reichtum. All das gefährdet die sozialen Ziele dieses Friedensprozesses. Die kolumbianische Regierung schafft Fakten, die durch die Friedensverhandlungen nur schwer verändert werden können. Im Endeffekt setzen sich so die Wirtschaftsinteressen durch. Deshalb ist unsere Unterstützung der Bewegung für eine gemeinsame soziale Route zum Frieden in Kolumbien sehr wichtig.
Die Forcierung von Freihandelsabkommen durch die Europäischen Union steht im Kontext von »Global Europe«, der seit 2006 propagierten Strategie der EU, die Wettbewerbsfähigkeit auf den Weltmärkten zu stärken. Welche Rolle spielt die Bundesregierung dabei?
Die »Global Europe«-Strategie wurde infolge des Scheiterns der Verhandlungsrunde der Welthandelsorganisation (WTO) 2003 im mexikanischen Cancún formuliert. Statt des multilateralen Ansatzes in der WTO wurde auf die bilaterale Karte gesetzt. Das heißt: Freihandelsabkommen voranzutreiben. Deutschland als europäische Exportnation Nr. 1 profitiert davon besonders und war auch eine treibende Kraft hinter dieser »Global Europe«-Strategie. Offene Märkte sind für die deutschen Exportunternehmen ein gefundenes Fressen. Die bilateralen Freihandelsabkommen zielen nicht zuletzt auf die Bereiche, die bei der WTO noch teilweise geschützt sind, wie das öffentliche Beschaffungswesen. Mit den Freihandelsabkommen werden der Wettbewerb um jeden Preis und der Ausbau des Investitionsschutzes für Konzerne massiv vorangetrieben. Exportvizeweltmeister Deutschland profitiert innerhalb der EU dabei am meisten von »Global Europe«.
Gibt es in der EU Staaten, die einen progressiveren Ansatz im Umgang mit Lateinamerika pflegen, oder gilt wie bei Griechenland: Berlin gibt den Ton an und der Rest zieht nach?
Einige südliche Länder pflegen zumindest einen pragmatischeren Umgang. Sie versuchen, gegenüber den linken oder Mitte-links-Regierungen Lateinamerikas die Berührungsängste abzubauen und den Handel auszubauen, ohne nur die eigenen Interessen zu bedienen. Es gibt Differenzierungen gegenüber Kuba und auch Venezuela. Das gilt zum Beispiel für Frankreich, Italien und Portugal, auch für die Niederlande. Das Nicht-EU-Land Norwegen spielt eine positive Rolle, weil es den Friedensprozess in Kolumbien unterstützt. Es gibt Abstufungen innerhalb der EU-Mitgliedsländer. Insgesamt muss jedoch festgehalten werden: Die EU hat sich als ein neuer internationaler Global Player auf wirtschaftlicher, politischer und militärischer Ebene etabliert und treibt die Ausbeutung der Ressourcen weltweit voran - nicht zuletzt getrieben von den deutschen Exportinteressen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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