Ikonen schützen vor Raketen
In das ostukrainische Debalzewo kehrte etwas Ruhe und in die Schule Unterricht zurück - doch Frieden ist fern
Am Himmel ziehen luftige, weiße Wattewolken. Der Blick schweift über Felder und Hügel. Eine Idylle, wären da nicht längs der Landstraße die verlassenen Wälle aus Sandsäcken. Zeugen der Kämpfe vom Februar, als im Raum Debalzewo mehrere Tausend ukrainische Soldaten von den Aufständischen der »Volksrepubliken« Donezk und Lugansk eingekesselt wurden und aufgeben mussten.
Wir erreichen den Ortseingang. Fast ehrfürchtig schauen wir auf die leicht beschädigte Betonstele mit den gelben Buchstaben »Debalzewo« auf blauem Grund. Der Name dieses Ortes mit 30 000 Einwohnern ging im Februar um die Welt. Als wir Debalzewo im April besuchten, sahen wir nur wenige Menschen. In den Straßen ein Bild der Verwüstung. Verkohlte Fenster, Löcher in Hauswänden, umgeknickte und zerfetzte Bäume.
Beim Besuch der Schule Nr. 6 in der Komsomolskaja Uliza lernte ich Anna Schulschenko, Lehrerin für Russisch und Literatur, kennen. Was Anna mir vergangene Woche schrieb, macht Hoffnung und betrübt zugleich. In der letzten Zeit seien viele Menschen zurückgekommen, schreibt die Lehrerin. »In unsere Schule kamen sogar Kinder drei Tage vor dem Ende des Schuljahres! Langsam beginnt das Leben wieder. Wir bekommen jetzt Wasser. Auch gibt es jetzt in allen Bezirken Elektrizität. Man beginnt wieder, Gehälter zu zahlen und die zerstörten Gebäude werden repariert.«
In der letzten Woche hat das Feuer der ukrainischen Armee auf die selbst ernannten »Volksrepubliken« stark zugenommen. Beide Seiten werfen sich vor, dass auch wieder mit schweren Waffen geschossen wird. »Die alten Ängste sind zurückgekehrt«, schreibt Anna. »In der Nacht auf den 3. Juni gab es Beschießungen durch die ukrainische Armee. Es gab Zerstörungen. Von Opfern unter der Zivilbevölkerung habe ich zum Glück nichts gehört.« Wie die Bevölkerung reagiert? »Während des Beschusses gehen wir wieder in den Keller. Aber wir gehen zur Arbeit und versuchen, nicht in Panik zu geraten, obwohl natürlich viele sehr verängstigt sind.« Sie hoffe, dass es sich um »lokale Zusammenstöße und keinen ernsten Feldzug« handelt, schreibt die Lehrerin.
Das Dach und sechs Klassenräume der Schule Nr. 6 wurden durch ein Geschoss zerstört. Zum Glück war zu diesem Zeitpunkt niemand in der Schule, sagt Schulleiter Sergej Kiritschuk, ein stämmiger Sportlehrer, Ende 50. Durch die Druckwellen der Explosionen ging das gesamte Fensterglas zu Bruch. Die Schulfenster sind jetzt mit durchsichtiger Plastikplane bespannt. Glas ist Mangelware.
Von wem die Rakete kam, wisse man nicht, so der Direktor. »Zuerst kamen die Geschosse aus der Richtung, wo die Ukrainer ihre Stellung hatten. Das konnte man an dem Pfeifgeräusch der Raketen erkennen.« Dann wurde die Komsomolskaja Uliza Frontgebiet und es gingen auch Granaten der Aufständischen auf das Wohnviertel nieder.
Anfang April - nach einem halben Jahr Pause - wurde die Schule Nr. 6 feierlich wiedereröffnet. »Wir haben uns in den Armen gelegen und geweint«, erzählt die 49-jährige Anna Schulschenko. Ende Mai begannen die Instandsetzungsarbeiten. Mit Hilfe eines Krans wurden zahlreiche zerstörte Betonplatten aus dem zweiten Stock der Schule gehievt.
Auch in sechs anderen Schulen und sechs Kindergärten in Debalzewo sind jetzt Bauarbeiter dabei, Trümmer zu räumen. Russland leistet humanitäre Hilfe bei den Wiederherstellungsarbeiten, berichtet die Donezker Nachrichtenagentur DAN. In Debalzewo sind erst 200 Bauarbeiter im Einsatz. Es müssen wohl noch mehr Arbeiter werden, denn bis zum Winter will die Regierung der »Volksrepublik Donezk« alle zerstörten Fernwärmekraftwerke der Stadt instand setzen lassen.
An Raketen haben sich die Menschen gewöhnt. Doch sie träumen vom Frieden. Vor der Schule ragt eine »Uragan«-Rakete schräg aus dem Schulrasen. Man erkennt das 15 Zentimeter dicke, graue Geschoss an den vier Lenkflossen am Schwanz. Wer die Rakete abschoss, war eher in Sicherheit. Die Uragan fliegt zehn bis 35 Kilometer weit.
»Bei kaltem Wetter sitzen die Kinder in Mänteln in den Klassen«, sagt Schulleiter Sergej Kiritschenko. Dringend brauche man Geld für neue Schulmöbel. Es könne doch nicht so schwer sein, Hilfe zu organisieren. Immerhin habe die Schule viele bekannte Doktoren, Professoren und »Helden der Sowjetunion« hervorgebracht, sagt Kiritschenko. Er zeigt auf die Tafel der Berühmtheiten, die auf der Schule Nr. 6 waren.
Eher beiläufig spricht der Direktor über ein Denkmal vor der Schule. Es handelt sich um die Büste eines Scharfschützen, der an der Komsomolskaja die Schulbank drückte und der Schule seinen Namen gab. Nikolai Jakowlewitsch Ilin, geboren 1922, gefallen 1943, tötete im Zweiten Weltkrieg 494 Soldaten der deutschen Wehrmacht und der mit ihr verbündeten Streitkräfte. Ich habe den Eindruck, dass der Schulleiter den Scharfschützen nur beiläufig erwähnt, weil er den Journalisten aus Deutschland nicht kränken will.
Für die Menschen in Debalzewo begann der neue Krieg am 26. Juli 2014. Anna kann sich genau erinnern. »An diesem Tag flüchteten wir alle in die Keller. Es war schrecklich. Aber die Kinder waren tapfer. Wir haben mit ihnen Gedichte und Geschichten gelesen und gebetet. Wenn es ruhiger wurde, konnte man schnell in die Wohnungen laufen, um etwas zu kochen oder auf Toilette zu gehen. Im Badezimmer war es immer am sichersten, weil es dort kein Glas gab.«
Anna erzählt, dass bei den Kämpfen etwa 100 Bewohner von Debalzewo getötet wurden. Doch trotz der beschädigten Wohnhäuser kämen immer mehr Bewohner zurück in die Stadt. Die Lehrerin erzählt, sie habe am 4. Februar ihre 80-jährige Mutter evakuiert. Die wohnte am anderen Ende von Debalzewo. Anna musste notgedrungen mit dem Fahrrad zu ihr fahren. »Sie wollte erst nicht weg. Sie hatte einen Hund und eine Katze. Die wollte sie nicht alleine lassen.« Schließlich habe sie es doch noch geschafft, die Mutter in die fünf Kilometer entfernt liegende Stadt Slawjansk zu bringen. Die Stadt liegt in einem Gebiet, das die ukrainischen Truppen kontrollieren.
Nach der Evakuierung der Mutter kehrte Anna zurück nach Debalzewo. »Ich will hier nicht weg. Ich bin hier geboren.« Ihr 25 Jahre alter Sohn lebt im Moskauer Gebiet. Wie es eigentlich zu diesem »merkwürdigen Krieg« gekommen ist, kann sich Anna immer noch nicht erklären. Es sei »noch zu früh das zu analysieren«.
Der Zweite Weltkrieg sei »nicht so schlimm gewesen«. Das erzählten die Rentner von Debalzewo. Da sei nicht so viel zerstört worden. »Vor einem Jahr saßen wir, wenn gefeiert wurde, noch alle gemeinsam an einem Tisch und haben unsere Lieder gesungen.« Mit »wir« sind Russischsprachige gemeint, die sich mehr zu Russland hingezogen fühlen, sowie gleichermaßen Russisch- und Ukrainischsprachige, die wollen, dass die Ukraine schnell Mitglied der Europäischen Union wird.
Die Zerstörungen in der Stadt seien schrecklich, aber sie bekämen auch Nahrungsmittel. Von wem genau, weiß Anna nicht. Wahrscheinlich aber aus Russland. Sie hoffe, dass ihr Haus wieder ein Dach bekommt. Nach einem Beschuss brannte es völlig ab. Ein Bewohner aus der dritten, der obersten Etage des Hauses, lebt jetzt notdürftig im Keller des Hauses. Wenn es regnet, bilden sich Pfützen im Treppenhaus.
Ein bisschen Angst hat Anna immer noch. »Jeder hier trägt immer eine kleine Tasche bei sich«, sagt sie. »In meiner Tasche sind Geld, Ausweise, ein Handy und ein Ladegerät. Das ist unser ganzer Reichtum.« Ein hilfloses Lächeln huscht über ihr Gesicht.
Anna trägt trotz der angespannten Lage schicke Sachen. Ihre Lederstiefel, die Ledertasche und die Wollmütze leuchten im modischen Rostbraun. Sie zeigt mir ihr Mehrfamilienhaus, das direkt gegenüber der Schule liegt. Sie freut sich über den blühenden Flieder und Jasmin. Im Krieg braucht man das Schöne ganz besonders. Die Fenster ihrer Wohnung im Erdgeschoss sind vernagelt. Die Nachbarn haben Ikonen in die Fenster gestellt, »als Schutz«, sagt Anna.
Im Hof streunen herrenlose und zerzauste Katzen. Die Wohnungen, in denen die Tiere einst ihre Heimstatt hatten, sind verschlossen oder zerstört. Anna sorgt sich um ihren Kater Erik. »Eine Katze hier verlor durch einen Granatsplitter ein Auge«, erzählt die Lehrerin. Wie es Nachbars Katze geht, scheint fast ebenso wichtig zu sein wie das Befinden einer Verwandten. Alles Lebende ist in diesem Chaos wertvoll.
Wir steigen in den dritten Stock des Gebäudes, der mit Mauersteinen und geschmolzenem Glas übersät ist. Über uns ziehen Wolken dahin. Regentropfen fallen auf Trümmer und Splitter. Die Feuchtigkeit, die jetzt ungehindert in das Mauerwerk eindringen kann, ist für Anna Schulschenko allerdings das kleinste Problem. Die Lehrerin kann sich freuen, dass ihr Haus wenigstens wieder Strom hat.
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