Der Kühlkammer-Exzess

Bertolt Brechts »Baal« am Schauspiel Leipzig und von Volker Schlöndorff auf DVD

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 6 Min.
»Jeder Dreck hat seinen Markt, aber Kunst wird mal so aus dem Handgelenk heraus verboten?« Gunnar Decker über eine bizarre neue Inszenierung von Bertolt Brechts »Baal« in Leipzig und Volker Schlöndorffs einst verbotene Verfilmung des Stoffes mit dem jungen Rainer Werner Fassbinder.

Dieses in Bruchteilen von Sekunden aufflammende Licht! Aber das Licht ist kalt, wie in einem Schlachthof oder einem Klassenzimmer morgens um sieben. Explosionen von Kälte, die den Traum aus dem Dunkel dorthin zerren, wo er nichts mehr zählt.

Nuran David Calis hat Brechts »Baal« für das Schauspielhaus Leipzig inszeniert. Er wählte von den drei möglichen Fassungen die erste von 1918, die das Augsburger Junggenie gegen Hanns Johsts »Der Einsame. Ein Menschenuntergang« geschrieben hatte, dessen fader Idealismus ihn provozierte. Nein, Kunstqualm aller Art war von Anfang an nicht seine Sache. Darum ist sein Baal der Gegentypus zu allem Hochgestimmten schlechthin. Er frisst, hurt, säuft, beleidigt so ziemlich jeden, zieht die Gosse dem Salon vor und schreibt nebenbei gottvolle Gedichte. »Das Scheusal hat Talent«, so musste selbst Thomas Mann angesichts des Antibürgers Brecht eingestehen.

Ursprünglich sollte das Stück heißen: »Baal frisst! Baal tanzt!! Baal verklärt sich!!!« Das ist immer noch der Leipziger Fahrplan dieser Abfolge von zwei Dutzend kurzen Szenen - Schlaglichter aus dem Leben Baals, der schließlich zum Mörder wird. Denn Künstler stehen den Verbrechern näher als den Bürgern. Sie haben Hunger auf etwas, das den faulen Frieden einer verlogenen Ordnung stört.

Nuran David Calis nimmt mit seiner Inszenierung den filmischen Gestus der Textvorlage auf. Szenenwechsel im Stakkato-Tempo. Immer hört es gerade dann abrupt auf, wenn andere zu umständlichen Erklärungen anheben würden. Brecht will nicht erklären, nicht überzeugen, auch nichts beweisen: Er zeigt nur, was ist.

Baal also, das empfindsame Urvieh, bei dem man an Detlev von Liliencron denkt (auch er ein großer, wenn auch heute fast vergessener Dichter), der von sich sagte, es sei gut, dass man ihn immer für einen Fettwarenhändler aus der Provinz hielte, er ertrüge es nicht, sähe er aus wie ein Dichter.

Als schlecht gewaschenen Wortarbeiter zeigte 1969 auch Volker Schlöndorff Baal. Schlöndorff hatte gerade mehrere Kunstfilme hinter sich gelassen (gute wie misslungene) und steckte in einer so schweren Krise, dass ihm nur noch einer helfen konnte: Brechts Baal, der Mut zum Exzess. Der Clou: Schlöndorff gewann den in notorischen Geldschwierigkeiten steckenden ebenfalls noch sehr jungen Rainer Werner Fassbinder als Darsteller des Baal. Fassbinder musste Baal nicht spielen, er war es. Das aufgedunsene Gesicht verbarg seine Seele vor den abgeschmackten Seelenverkäufern um ihn herum. Und dennoch glühte alles aus ihm heraus.

Der Film hat etwas offensiv Dilettantisches, Fassbinders halbes Anti-Theater-Ensemble wurde auf sein Drängen hin engagiert, er übernahm mitsamt seinem Kameramann quasi den Film - und Schlöndorff, so scheint es, war zu der Zeit ohnehin alles egal.

Wie dieser junge unförmig-ungesunde Mensch hier zur Musik von Klaus Doldinger den erst der zweiten »Baal«-Fassung vorangestellten »Choral des großen Baal« singt, dabei schweren Schritts durch Felder wankt, Kippe im Mundwinkel und die speckige Lederjacke offen, das vergisst man, einmal gehört, nie mehr: »Als im weißen Mutterschoße aufwuchs Baal / war der Himmel schon so groß und weit und fahl / blau und nackt und ungeheuer wundersam / wie ihn Baal dann liebte - als Baal kam.« Nachdem der Film einmal im Fernsehen gelaufen war, gab es eine ungeheure Empörung, sogar Morddrohungen. Solch »asozialen Typen« wollte man nicht auch noch von der Wohnzimmercouch aus zusehen müssen. Solch Gesindel gehöre ganz woanders hin!

Warum an dieser Stelle ein Schlöndorff-Fassbinder-Exkurs? Sozusagen als Eilmeldung. 1969 wurde der Film nach einmaliger Ausstrahlung sofort verboten - fatalerweise auf Betreiben von Helene Weigel, die damit die unselige Verbotstradition der Brechterben begründete. Im vergangenen Jahr wurde er endlich freigegeben, nun gibt es ihn auch auf DVD.

Die Leipziger »Baal«-Inszenierung ist bislang nicht verboten worden, das muss man angesichts des absurden Urheberrechtsgebarens der Brecht-Erben immer extra mitsagen. Vergleiche mit Frank Castorfs ausuferndem, Augenzeugen zufolge kongenialen »Baal«-Exzess sind allerdings nicht mehr möglich, diese Inszenierung darf bekanntlich nicht mehr gezeigt werden. Wo leben wir eigentlich? Jeder Dreck hat seinen Markt, aber Kunst wird mal so aus dem Handgelenk heraus verboten?

Immerhin ist die Leipziger Inszenierung überaus wortgetreu, also unangreifbar. Aber dennoch wird hier Brecht alles andere als museal zelebriert. Nuran David Calis hat einen glühendheiß-tiefgekühlten Clip-Parcours aus »Baal« gemacht, dessen forcierte Künstlichkeit so kaum noch zu steigern ist. Das ist in seiner ästhetischen Kompaktheit ein furioser Zugriff auf den Stoff.

Erste Szene, erstes Bild: »Soiree«. Der Dichter Baal inmitten von kunstbeflissenen Damen und Herren, die das Untier aus der Unterschicht wie einen wiederauferstandenen François Villon feiern wollen. Man wird ihn drucken, auf ihre Kosten selbstverständlich, man ist mäzenatisch gestimmt, wird sich sonnen in ihm. Baal sitzt, schweigt und isst. Die Szenenanweisung »Herren und Damen in großer Toilette« läuft als projizierter Schriftzug als Video mit und bekommt im weißen Kachelfeld (Bühne: Irina Schicketanz) eine völlig neue kloakige Bedeutung. Diese unaufdringlich klugen Mittel, Wahrnehmung zu irritieren, prägen Nuran David Calis’ Arbeit. Auch wenn in der Reduktion zwangsläufig einiges an Nuancen, die keineswegs unwichtig scheinen, auf der Strecke bleibt. So gleich am Anfang bei der Lesung von Soiree-Gedichten, mit denen man den anwesenden Baal malträtiert. Bei August Stramm, dem bedeutenden, heute leider vergessenen Expressionisten, sagt er noch knapp, aber klar: »Ausgezeichnet!«, bei einem Dichter namens Novotny ringt er sich bloß noch ein trockenes »Ganz hübsch« ab, was der Beginn des folgenden Eklats ist. Hier in Leipzig kann man durch szenische Zusammenziehung den irrigen Eindruck bekommen, Stramm selbst sei für Baal einer jener Dichterlinge, für die er sein Essen nicht unterbricht.

Da hilft nur, den Text vorher und hinterher selbst noch einmal zu lesen! Baal, der von sich sagt, man habe ihn so lange geprügelt, dass er jetzt eine Hornhaut habe, wird von Sebastian Tessenow gespielt, der eine eher konventionelle Ausstrahlung besitzt, was anfangs irritiert, weil es eigene Erwartungen vom Anti-Bürger enttäuscht, aber dann, wenn man sich auf die subtile Spielweise Tessenows einlässt, doch unerwartete Facetten an der Figur entdecken lässt. Denn hier wird Baal vor einem Klischeebild des Urviehs bewahrt, das er doch eher in den Augen derer ist, die ihn ohnehin missachten.

Beachtlich, wie konsequent die Gruppenszenen choreographiert wurden. Die Leute sind eben immer eine potenzielle Meute, man sollte sie, wenn man sie schon nicht wie Hans Neuenfels in seiner Bayreuther »Lohengrin«-Inszenierung als Rattenchor zeigen will, doch als eine gefährliche Verklumpung ansehen, die merkwürdige Verrenkungen betreibt. Wenzel Banneyer als Baals Gegenspieler Ekart, in eine Goldfolie verpackt, treibt das Spiel um Worte bis in die Körper hinein.

Sie stehen dann, die Welt tut es schließlich auch, auf dem Kopf oder gehen im Krebsgang (akrobatische Spielmarken: Lisa Mies als Sophie, Ulrich Brandhoff als Johannes). Eine bizarre Revue zieht hier im 120-Minuten-Format an uns vorbei, durchaus »ausgezeichnet«, wie Baal über August Stramm bemerkt. Die von Brecht angekündigte »Apotheose« - also höhere Rechtfertigung - Baals ist dabei allerdings in eine so unwirkliche Szenerie verlegt, dass man sich mit Erich Kästner unwillkürlich fragt: Und wo steckt das Positive? Weiß der Teufel wo.

Nächste Vorstellung: 18.6.

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