Im Kanton Nr. 10
Martin Leidenfrost über Sarajewo, 100 Jahre Erster Weltkrieg und die allgegenwärtigen Spuren jüngerer Schlachten
Ein ortsfremdes Paar fährt durch den bosnischen Westen, unweit der kroatischen Adria. Er lenkt, sie fotografiert. Sie durchfahren ein weites Tal, saftig grüne Wiesen, Streusiedlung. Einige Häuser sind zerstört, fast alle verlassen, ohne Fenster und ohne Dächer. »Hier würde man günstig ein Wochenendhaus kriegen«, scherzen die beiden anfangs, »kann nur sein, dass es den Hund beim Spazierengehen zerfetzt.« Sie sehen eine Minenwarntafel. Zahllose Rohbauten, die nie bezogen wurden. Bäume, die aus Hausruinen sprießen. »Wie bedrückend muss das sein, hier zu wohnen, das da immer vor Augen zu haben.« Die Frau lässt den Fotoapparat sinken, verstummt. Sie ist zu jung, um diesen Krieg auch nur im Fernsehen gesehen zu haben. »Auch das ist Europa«, sagt der Mann noch, »und wozu war das gut?« Dann schweigen sie. Der Frau treten Tränen in den Augen.
Sie kommen in eine Kleinstadt. Erobertes Territorium, in diesem Fall wurden Serben von Kroaten besiegt. Die Reisenden haben in der Kantonshauptstadt Livno nichts als kroatische Nationalkaros gesehen, und der Pressechef der Kantonsregierung hat ihnen gesagt, er habe keine Daten über die Zahl der im Norden des Kantons ausharrenden Serben. Warum sein Kanton immer noch den amtlichen Behelfsnamen »Kanton Nr. 10« trägt? »Das ist eine lange Geschichte.« In Bosansko Grahovo einfahrend, hat das Paar eine verdreckte Kuh vor sich. Sie steht auf einem Anhänger aus primitiven Latten. Wellenförmig schwappt ihr Dünnschiss auf die Straße, sie uriniert noch drauf.
Der Hauptplatz sieht aus, als wäre gestern noch Krieg gewesen. Das Gavrilo-Princip-Kulturhaus ist verkohlt, vor dem Gerippe des Hotels »Sarajewo« brennt eine rostige Müllmulde. Das Plakat über dem »Caffe Forever Club« erinnert an letzten Sommer, an das große Gedenken zu 100 Jahren Ausbruch des Ersten Weltkriegs: »Gavrilo Princip - Seid ihr selbst und seid frei!« Die herumstehenden und herumsitzenden Menschen sind großteils Serben, die Atmosphäre ist ziganisch. Ein Säufer flüstert dem Paar zu, er sei Kroate, habe aber für die serbische Seite gekämpft: »Wie alle, die ihr hier sitzen seht.« Markante angstfreie Physiognomien, Desperados.
Das Paar fährt zum Geburtshaus des serbischen Jünglings, der 1914 in Sarajewo den österreichischen Thronfolger erschoss. Auch in Obljaj meist zerstörte und verlassene Häuser. Von 38 Familien seien 20 Personen geblieben, erzählt ein alter Serbe. Das renovierte Geburtshaus duftet nach frischem Holz und kühlem Stein. Es gibt keinen Museumswärter, und doch stehen die Türen rund um die Uhr offen. Das Paar setzt sich auf das harte Bett. Die Decke kratzt, Vögel zwitschern in die Stille. Ein langer Kuss.
Man führt das Paar zu einem Typen in schmuddeliger Traininghose. Er nennt sich selbst »Graf«, und da er auf gut zahlenden norwegischen Gasschiffen zur See fuhr, nennt man ihn auch »Popeye«. Der Graf, 61, posiert vor der von ihm gestifteten Gedenktafel. Er ist geübt, jongliert seine Gavrilo-Princip-Bücher, letztes Jahr haben ihn Fernsehsender aus aller Welt und die »New York Times« interviewt. Er lebt allein, sein Haus ist riesig. Das Erdgeschoss ist leer, »zwei, drei Monate« hatte er ein Restaurant drin. Er zeigt ein Foto, »4. HV, 2. PB SPLIT« ist da auf seine weiße Hauswand gepinselt. »Das waren die Kroaten von Ante Gotovina, alle meine 400 Bücher sind verbrannt.« Er nennt sich einen Rocker und Pazifisten, legt am Tresen die Beatles auf, »ich selbst habe nicht gekämpft. Aber ich bin der größte Princip-Experte.« - »Auf der Welt?« - »In diesem Land.« - »War das Attentat richtig?« - »Ja, die Österreicher waren Okkupanten. Schon die griechischen Philosophen haben Tyrannenmord befürwortet.« - »War Franz Ferdinand ein Tyrann?« - »Ja. Die Österreicher brachten ihn im Theresienstädter Gefängnis langsam um, indem ihm dauernd Wasser auf die Stirn tropfte.«
Popeye führt das Paar in den ersten Stock. Zahllose Betten und Liegen, alle fertig bezogen. In welchem Bett schlafen Graf? »In keinem, ich schlafe anderswo.« Er wartet auf Touristen, gesteht er, zum 101. Jubiläum kommt aber kein Schwein mehr, dieses Jahr hielten nur ein paar slowenische Katholiken auf dem Weg nach Medjugorje. »Wollt ihr nicht übernachten?«, fragt er, »zehn Euro!« Bei Graf Popeyes selbstgebranntem Slibowitz über Tyrannenmord und Jim Morrison zu diskutieren, die Vorstellung lockt durchaus. Und doch verlässt das Paar Kanton Nr. 10.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.