Dieses Europa ist es nicht
Tom Strohschneider über SYRIZA, Solidarität mit Flüchtlingen und den Traum vom Ende des Winters
»Ich hab geträumt, der Winter wär vorbei. Du warst hier und wir waren frei«, so machten uns »Ton Steine Scherben« immer ein bisschen Hoffnung. Aber sie wussten auch, wo dieser Traum von einem besseren Leben keine Wirklichkeit war - hier: »Dieses Land ist es nicht.«
Würde Rio Reiser noch leben, der Song würde heute von Europa handeln. Davon, dass eine Hoffnung damit verbunden war, die von der Erfahrung des Krieges und vom Wissen um die Möglichkeiten des Kontinents genährt wurde, der die Aufklärung hervorbrachte. Er würde singen vom Traum, den Menschen mit diesem Europa verbinden, die hierher fliehen müssen vor Gewalt, Verfolgung, Not.
Aber die »Scherben« würden auch fragen, gibt es diesen Ort, wo all das Wirklichkeit ist? Und Rio würde antworten: Dieses Europa ist es nicht.
Seit Ende Januar versucht die SYRIZA-geführte Regierung in Griechenland einen gesellschaftlichen Prozess in Gang zu halten, von dem es abhängt, ob in Europa in absehbarer Zeit überhaupt eine Alternative zum autoritären, kapitalistischen Wettbewerbsregime möglich ist. Dass dieses »Andere« in Griechenland mit SYRIZA an der Spitze die Regierung erreicht hat, dass diese Regierung den »Institutionen« der Gläubiger ein Nein entgegengeschleudert hat, dass sich anderswo Bewegungen an diesem Nein orientieren, das ist es, was die Reaktion der Kräfte des Status quo befeuert. Nicht um ein oder zwei Milliarden Krümel in einem Kreditprogramm geht es, sondern darum, ob die, die eine Alternative wollen, politisch den Fuß in die Tür der ganzen Bäckerei halten können.
In Griechenland stehen die Spielräume linker, demokratischer - überhaupt von Politik auf dem Spiel. SYRIZA hat sich dabei auf das Spielfeld des Gegners begeben. Das macht die Sache so schwierig und widersprüchlich. Doch wie sonst als unter den gegenwärtigen Bedingungen könnte ein Kampf um einen grundlegenden Richtungswechsel geführt werden?
Die EU ist in ihrer gegenwärtigen Form und angesichts der Kräfteverhältnisse ein neoliberales Klassenprojekt, das weder den Interessen der Mehrheit entspricht noch auf begeisterte Zustimmung stößt. Dort, wo das System aus Aneignung, Autorität und Ausgrenzung größeren Teilen der Bevölkerung etwas übrig lässt, in dem man sich einrichten kann, herrscht noch passiver Konsens. Dort, wo die sozialen Folgen des real existierenden Kapitalismus schon schärfer zutage treten, wachsen die Gegenbewegungen.
Und es nimmt weltweit die Zahl derer zu, die flieht. Denn das Europa, das existiert, hat sich seinen relativen Wohlstand über Jahrhunderte global zusammengeraubt und ihn errichtet auf Trümmerfeldern jenseits seiner Grenzen. Zehntausenden hat die Gefahr, an Europas hochgerüsteten Außengrenzen zu sterben, keine Angst mehr gemacht, weil die Aussichten zu Hause noch schrecklicher waren.
Solidarität mit ihnen hat man hierzulande vielen ausgetrieben - mit rassistischer Propaganda und der Lüge, man könne sich nur in Konkurrenz zu anderen der Zumutungen des kapitalistischen Alltags erwehren. In Konkurrenz zu jenen, mit denen man doch in Wahrheit seine Interessen teilt. So wie der Stuttgarter Arbeiter und der Rentner aus Athen dieselben Interessen haben. Interessen, die von den Eurogruppen-Bürokraten, den Schlagzeilen-Zündlern und den Krisengewinnlern nicht vertreten werden.
Es anders zu machen bleibt möglich. Hier, in Athen, weltweit. Damit der Winter irgendwann vorbei ist.
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