Knüppel unter der Kutte
Berliner Ensemble. »Schlafe, mein Prinzchen« - musikalischer Abend von Franz Wittenbrink
Es gibt Veränderungen, da wandelt sich alles - und bleibt, wie es immer sein wird. In jeder neuen Zeit krebst grinsend die alte. Kirche wird Kommune - und die Kriminalität dauert. Hohe Domsäulen, ein Gewitterschlag, die Säulen drehen sich und sind hohe Bäume, statt der Kirchenfenster in der Mitte nun ein großes Gestrüppknäuel, ein Dickichtklumpen. Sagen wir: Odenwald. Odenwaldschule. Der Rest ist bekannt, Kinderstimmen erzählen ihnen. Lehrerstimmen brüllen militarisiert und einschüchternd dagegen an. Wie vorher die Stimmen der Geistlichkeit.
Alte Zeit, neue Zeit. Erst ein Kircheninternat, dann ein Internat der Reformpädagogik. Erziehungsideale, Missbrauchspraktiken. Der Knüppel unter der Kutte. »Schlafe, mein Prinzchen« heißt der Liederabend von Franz Wittenbrink am Berliner Ensemble. Zwölf überwältigend starke Spielsänger, Sangesspieler, Wittenbrinks Band. Stones und Mozart, Gregorio Allegri und Bob Dylan, Schubert und Aritha Franklin, Bach und Morrison. Choral und Kinderlied, weihestrenges Procedere und wilder Protest. Faszinierende Stimmen, Kinderleben (überzeugend in Erwachsenenkörpern) toben und taumeln, zagen und zittern, lüsten und leiden.
Wittenbrink ist ein leidenschaftlicher Versöhner von Show und Shakespeare, Drama und Revue. Im Singen öffnen sich ihm alle Freuden- wie Traurigkeitsspiegel der Gegenwart. Die Klassik darf Lärm machen, wie es alle zwanzig Kinder von Bach nicht vermochten. Und erst das patriotische Lied! Höher kann kein Mensch singen, tiefer sinken auch nicht. Musik lässt sich vor jeden Gefühlskarren spannen, und den zieht Wittenbrink mit großem dramaturgischem Geschick durch den glitzernden Dreck der Politik- und Psychowelt. Der Liederabendtheatermacher (»Sekretärinnen«, »Männer« »Zigarren«, »Kein schöner Land - ein Heimatabend«) sitzt wie ein Sprengmeister im Geist der Musik, entzündet sich am Zusammenhang, der zunächst keiner sein will - und durch Mischung verblüffend einer wird.
Der Niedersachse, Jahrgang 1948, war bei den Regensburger Domspatzen, später Mitbegründer des Kommunistischen Bundes Westdeutschland, dann erfolgreicher Theatermusiker. Viel Lebensstoff aus Glaube und Unglaube, aus strengem Idealismus und fröhlichem Sarkasmus. Der forsche Dogmatiker wusste seinen Geist ins Theater zu überführen, in die Musik zu geleiten, also: zu retten. Immer, wenn Wittenbrink seine linke Vergangenheit in frei-beschwingtester Selbstironie erledigte, hatten seine Programme Streitschärfe - nur die gebrochene Liebe behält Rückgrat. Diesmal das Thema des Kindesmissbrauchs, der Autor und Regisseur und Domspatz im Programmheft: »... unauslöschbar der Geruch von Bohnerwachs, Angstschweiß und Einsamkeit.« Dann der Befreiungsschlag, das lockende Links. Antiautoritäre Erziehung. Aber: die Klassenkämpfer wie die Katholiken - Abschottung, Sektenethos, die Reihen fest geschlossen, die Wahrheit: ein Feind. Und statt des Kreuzes nun das Antiatom-Zeichen am Pult für die Heuchelreden. Wittenbrink: »Wenn heute noch, nach all den Aufdeckungen, der Zusammenhang von antikapitalistischer sexueller Befreiungsideologie und Kindesmissbrauch geleugnet und Kritik als ›Besudelung der Achtundsechziger‹ gebrandmarkt wird - dann zeigt das nur, wie stark das Beharrungsvermögen von Ideologen ist, egal ob reaktionär rechts oder ›fortschrittlich‹ links.«
Wittenbrinks Musikkultur ist die der unversöhnlichen Töne - das ergibt den einzig schönen Ton. Indes: Bei allem Schwung, bei aller Kontrastmühe - der Musik fehlt diesmal die Aura des direkten dramatischen Erzählens. Sie schlägt oft ein, wo sie doch besser dreinschlagen sollte. Viel Freude, wenig Frost. Songs wecken Erinnerung (Degenhardt, Mamas & Papas, Beatles) statt Unbehagen. Wehmut, wo es weh tun müsste. Illustration ersetzt bisweilen, was die besten Produktionen Wittenbrinks doch großartig schafften: Die Konfrontation und Liaison unterschiedlichster Musiken eröffnete knirschend neue Tonlagen, und zwischen Kabarett und Tragödie erglänzte ein erhellender Zynismus. Hier plötzlich sind Dialoge zwischen den Liedern oft böser, entlarvender. Das scharfe Chordirigat, zu dem das Knallen des Klavierdeckels den peitschenden Takt gibt. Das Züngeln der Züchtiger. Der Beichtstuhl als Vorstufe des Bettes. Und jene Beschwichtigungsgirlanden, die von den Lehrern um besorgte, nachforschende Eltern gewunden werden. Aber da ist auch deren schnelles Einknicken - der Untertanengeist, der Obrigkeitsreflex als Kumpan des Perversen. Thomas Wittmann, Andreas Lechner und Veit Schubert - erst Lustlotterer unterm Dach der Kirche, dann unterm freien Himmel der antiautoritären Zeltabende am Lagerfeuer; ledern dürr der eine, bayrisch wanstgemütlich der andere, eitelschleimend jovial der dritte.
Schön gallig freilich der Schluss. Veit Schubert sitzt, als einer der verruchten Fummler im Schuldienst, im Altersrollstuhl und bittet einen seiner traumatisierten Zöglinge nach Jahrzehnten um Verzeihung - und singt dann verkrümmt, in unverhohlener Melancholie, die Augen verzückt ins Wesenlose gerichtet: »I did it my way«. Diese Hymne der Komödianten, die an Sinatra und Juhnke denken lässt, dieser melancholische Abgesang der Traurigen, die doch ihren Irrtümern Ehre zollen und aufrichtig, aufgeräumt heiter zu ihren Um- und Irrwegen stehen - just dieser Song nun ungeniert wehleidig und senil trotzig aus dem Mund eines Seelenzerstörers. Wohin dieser Ex-Alternativpädapädophilogoge auch rollt - es gibt Aufklärer, die verlassen nie die Zeit, da die Erde eine Scheibe war. Und der Mensch ihnen eine Zielscheibe. Und Musik ist nun - ganz die Art Wittenbrinks! - wie schwarzes Mehl, in einer gesellschaftlichen Klapsmühle gemahlen ...
Nächste Vorstellungen: 22./29. Juni
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