Über alle Grenzen
Die Leichtathleten mit Behinderung glänzen bei den Offenen Deutschen Meisterschaften mit sieben Weltrekorden
Drei Jahre ist es her, als Martina Caironi damit begann, sich das zurückzuholen, was ein schwerer Motorradunfall ihr genommen hatte. Die junge Italienerin ist Athletin, durch und durch trainiert, vergangene Woche hat sie einen neuen Weltrekord aufgestellt: Sie lief 200 Meter in 33,32 Sekunden. Martina Caironi fehlt der linke Unterschenkel, das linke Knie, das ganze linke Bein. Sie gilt als schwerbehindert, zu Hause in Italien hängt eine Goldmedaille von den Paralympischen Spielen in London 2012 in ihrem Schrank.
Als Caironi drei Jahre nach ihrem Unfall ihre erste Prothese bekam, mit der sie nicht nur laufen, sondern rennen konnte, rannte sie. Sie rannte, um sich ihren Körper »zurückzuerobern«, erzählt die 25-Jährige heute, am Rand der Tartanbahn im Berliner Friedrich-Ludwig-Jahn-Sportpark. »Ich hatte verstanden, dass ich athletisch sein kann, auch wenn mir ein Bein fehlt. Damit ist der Sport zu einem wichtigen Teil meines Lebens geworden.«
Caironi ist eine von 550 Sportlern aus 40 Nationen, die sich an diesem Wochenende in Berlin bei den Internationalen Deutschen Meisterschaften (IDM) der Leichtathleten mit Behinderung treffen. Sie wollen persönliche Bestleistungen und kämpfen im Rahmen einer internationalen Wettkampfserie um den Grand-Prix-Titel. So richtig zufrieden ist Caironi heute nicht, Aprilwetter im Juni mit Nieselregen und Gegenwind machen es den Sportlern nicht einfach, Bestleistungen zu bringen, auch wenn Caironi sich das Wetter als Ausrede für einen schlechten Lauf verbittet. Ein bisschen müde sei sie einfach gerade, weil sie jedes Wochenende an einem anderen Ort auf der Welt an Wettbewerben teilnimmt.
Manchen gelingt die Bestzeit dennoch, so wie Marcin Herbut aus Polen. Der 21-Jährige startet in der Klasse T-47 für Sportler, deren Arme aufgrund einer Muskelstörung oder Amputation beeinträchtigt sind. Für Herbut ist es der erste Wettbewerb überhaupt und der Student springt im Finale mit einer Höhe von 1,68 Meter seine persönliche Besthöhe und damit direkt auf den zweiten Platz. Er strahlt über das ganze Gesicht, »Hochsprung, das ist einfach meine Disziplin«, freut sich Herbut.
In sechs Disziplinen können die Sportler antreten, manches ist anders als bei einem Leichtathletik-Meeting für Menschen ohne körperliche Einschränkungen. Letztlich geht es aber auch bei den IDM um Bestzeiten, -höhen und -weiten, darum, sportliche Leistungen miteinander zu vergleichen. Da die körperlichen Einschränkungen der Sportler sehr unterschiedlich sind, gibt es neben einem Klassifizierungssystem auch die Praxis, verschiedene Startklassen zusammenzulegen. Die Leistungen werden dann je nach Schweregrad der Einschränkung anhand von Punkten umgerechnet, um die Ergebnisse somit besser miteinander vergleichen zu können.
So kommt es auch, dass Caironi mit nur einem amputierten Bein gegen die beidseitig Oberschenkelamputierte Vanessa Low antritt. Low ist so etwas wie ein Star in der Szene, und das zurecht. Die 25-Jährige ist ein Ausnahmetalent. Auch wenn sie den heutigen Wettkampftag als »eher zäh« beschreibt, springt sie im Weitsprung mit 4,30 Meter zwar nicht ihre persönliche Bestweite, aber doch auf den ersten Platz. Nach einer langen Verletzungspause fehlt ihr ein wenig die Routine, berichtet Low. Seit einiger Zeit lebt und trainiert die Studentin in den USA, »deshalb ist es auch einfach mal wieder schön, vor der Familie in Deutschland einen Wettkampf machen zu können«.
Das Wetter spielt für Low heute eine besondere Rolle. Mit zwei mechanischen Kniegelenken macht böiger Gegenwind einen runden Lauf schwierig. Um gutes Wetter bei der Weltmeisterschaft im Oktober brauchen Low und ihre Konkurrentinnen aber nicht zu bangen, die findet in Doha, Katar statt. Für Low war der Wettkampf in Berlin der Abschluss ihrer Saison und »eine schöne Probe für die WM«.
Plötzlich geht die Musik im Stadion aus. Die Zuschauer werden ganz still. Das Finale der Frauen mit Sehbehinderung im Weitsprung hat begonnen. Die Stille ist wichtig, sonst würden die Frauen das Klatschen ihrer Trainer nicht hören, das ihnen eine akustische Orientierung für den Absprung gibt. Funktioniert einer der Sinne nicht, muss es eben ein anderer ausgleichen. Wer sich im Jahn-Sportpark heute umschaut, den Diskuswerfern, Hoch- und Weitspringern, den Läufern und Rennrollstuhlfahrern zusieht, erkennt, dass der eigentliche Wettkampf der Athleten im Geist längst gewonnen wurde. Dass ein starker Wille diesen Sportlern die Kraft gibt, trotz körperlicher Einschränkungen sich über Grenzen, Höhen und Weiten hinwegzukämpfen um ihre Ziele zu erreichen. Sieben neue Weltrekorde werden an diesem Wochenende aufgestellt. Daniel Scheil aus der Oberpfalz hat etwa seinen Speer aus dem Rollstuhl heraus 26,96 Meter weit geworfen. So weit wie niemand vor ihm.
Martina Caironi, beim 100-Meter-Lauf am Samstag noch Dritte, lässt sich vor einem Start von Jimi Hendrix’ Gitarrensound motivieren. Der Musiker ist für sie Antrieb und Beispiel dafür, dass der normale Weg, nicht immer der beste ist, schließlich spielte er auch schon mal mit den Zähnen statt den Fingern. Am Sonntag dann ist Caironis Weltrekord von vergangener Woche schon wieder Geschichte. Er steht nun bei 31,73 s. Die Italienerin wurde geschlagen. Erneut von sich selbst.
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