Keine Gerechtigkeit für Marikana
Bericht über die Erschießung von 34 streikenden Bergleuten in Südafrika vorgelegt
Das Massaker von Marikana gilt als der blutigste Ausbruch von Gewalt seit dem Ende der Apartheid in Südafrika. 34 Minenarbeiter waren im August 2012 im Kugelhagel der Polizei gestorben. Ihr Tod prägte die junge Nation nachhaltig und auch international sorgte die gewaltsame Auflösung des Lohnstreiks für Schlagzeilen.
Drei Jahre nach dem Blutbad präsentierte Präsident Jacob Zuma jetzt den Untersuchungsbericht, der erstmals versucht, die Schuldigen zu benennen. Wenig überraschend spricht auf mehr als 600 Seiten der pensionierte Richter Ian Farlam, Leiter der Untersuchungskommission, die politische Elite von jeder Schuld frei. Bestraft werden sollen die Männer an der Waffe und ihre Vorgesetzten.
Es waren Bilder, die um die Welt gingen: Gepanzerte Polizisten mit Schlagstöcken auf der einen Seite, Knüppel und Macheten schwingende Bergleute auf der anderen. Der Zusammenstoß sorgte für Entsetzen. Gegenüber der Farlam-Kommission beteuerten die Polizisten, in Selbstverteidigung geschossen zu haben. Der Untersuchungsbericht zeichnet jedoch ein anderes Bild: Farlam zufolge hätten die Sicherheitskräfte das Massaker verhindern können, hätten sie nicht auf einen »mangelhaften Plan« gesetzt.
Angesichts der bis zu den Zähnen bewaffneten Demonstranten »wäre es unmöglich gewesen, die Menge ohne erhebliches Blutvergießen aufzulösen«. Hätten die Sicherheitskräfte hingegen 24 Stunden abgewartet, hätte man den Streik im Bergwerk bei Johannesburg friedlich beenden können.
-
/ Interview: Christian Selz»Es geht darum, Alternativen vorzuschlagen«Noch immer gibt es historische Ausbeutungsmuster in den südafrikanischen Minen, meint die Politikwissenschaftlerin Sikho Luthango
-
/ Christian Selz, KapstadtSystemrelevantes MordenDer Streik der Bergleute von Marikana vor zehn Jahren war der versuchte Ausbruch aus Südafrikas kolonialem Wirtschaftssystem. Er endete im Kugelhagel der Polizei
-
/ Christian Selz»Die Mehrheit lebt noch immer in Wellblechhütten ohne Wasser«Die Lebensbedingungen in Südafrikas Bergarbeitergemeinden haben sich kaum verbessert, sagt der Soziologe Crispen Chinguno
Zudem wendet sich Farlam in seinem Bericht an Südafrikas Staatsanwaltschaft: Die Ankläger sollten die Ermittlungen aufnehmen, um die schuldigen Polizisten zur Rechenschaft zu ziehen. Außerdem sollten alle Sicherheitskräfte in Erste-Hilfe-Maßnahmen unterrichtet werden, zumal mindestens ein Minenarbeiter durch schnelle Versorgung hätte gerettet werden können.
Auch Südafrikas Vizepräsident Cyril Ramaphosa war in den Zeugenstand getreten. Zur Zeit des Massakers war er als einer der Direktoren von Lonmin, dem Besitzer der Marikana-Mine, tätig. Sein Auftritt bei der Kommission musste mehrmals unterbrochen werden, als die Familien der Getöteten wutentbrannt forderten, Ramaphosa solle »zurückzutreten«, da »Blut an seinen Händen« klebe. Am Vortag des Massakers hatte Ramaphosa eine E-Mail von einem weiteren Lonmin-Vorstand erhalten, der ihn bat, »seinen Einfluss zu nutzen, um den Streik zu beenden«. Den Protokollen nach habe Ramaphosa noch am selben Tag mit Polizeiminister Nathi Mthethwa telefoniert. Jetzt sprach der Untersuchungsbericht beide Politiker von jeglicher Schuld frei.
Bei der Vorstellung des Berichts in Pretoria nannte Zuma die Ermordung eine »schreckliche Tragödie, die keinen Platz in einer Demokratie hat«. Die Nation sollte von der schmerzlichen Zeit lernen und eine geeinte und friedliche Gesellschaft zu bilden, die zusammenhalte. Die Untersuchung des Massakers nahm drei Jahre in Anspruch und entwickelte sich zur Farce. Mindestens drei Zeugen wurden während der Ermittlungen ermordet. Angehörige und Überlebende forderten Aufklärung und versuchten sogar, per Klage den Untersuchungsbericht öffentlich zu machen.
Südafrika gilt laut der Weltbank als das Land mit der ungerechtesten Einkommensverteilung. Immer wieder führt die Ungleichheit in der Gesellschaft zu gewalttätigen Protesten. Der Untersuchungsbericht bringt Gewissheit, aber keine Gerechtigkeit. Farlam verzichtete in seinem Urteil ausdrücklich darauf, eine Entschädigung für die Opfer zu empfehlen. Dies gehe über sein Mandat hinaus.
Die südafrikanische Onlinezeitung »Daily Maverick« kommentierte am Freitag den Bericht bitter: »Nachdem sie 34 Monate gewartet haben, zu erfahren, weshalb ihre Lieben und Kollegen ermordet wurden, müssen die Bewohner von Marikana mit der Gewissheit weiterleben, dass es keine Gerechtigkeit oder Haftung für die extreme Gewalt gibt.«
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.