»Für mich war Karl der Größte«
1978 wurde der Aachener Dom erstes UNESCO-Weltkulturerbe Deutschlands
Die 1988 geschlossene Städtepartnerschaft zwischen Naumburg und Aachen war nicht die erste, die zwischen einer Stadt in der DDR und einer westdeutschen Kommune vollzogen wurde. Sie fällt aber aus dem Rahmen, weil sich Erich Honecker angeblich höchstpersönlich für diesen Städtebund eingesetzt hat. Über die Zustimmung der Aachener war ich damals verwundert, wollte meine Heimatstadt doch keine zwei Jahrzehnte zuvor noch den Intendanten des Aachener Stadttheaters davonjagen, weil er es gewagt hatte, Brecht auf den Spielplan zu setzen.
Die Partnerschaft zwischen Naumburg und Aachen war von Anfang an eine sehr herzliche Freundschaft. Nach der Wende halfen die Aachener den Naumburgern, wo sie nur konnten. Das 25-Jährige wurde vor zwei Jahren gemeinsam groß gefeiert. Und sollte Naumburg es auf die UNESCO-Welterbeliste schaffen, wird man sich in Aachen nicht weniger freuen. Denn der Aachener Dom war das erste Bauwerk in Deutschland - und das zweite auf dem Globus -, das 1978 auf die Liste der Welterbestätten gelangte. Erst 1981 folgten der Dom von Speyer und die Würzburger Residenz.
Als Kind hatte ich zu dem Bauwerk ein inniges Verhältnis. Es lag auf meinem Schulweg. Es verging bis zum Abitur kaum ein Schultag, an dem ich den Dom nicht besuchte. Meine Lektion hatte ich gelernt: Das Oktogon mit der mächtigen Kuppel wurde 800 - im Jahr der Krönung des Frankenkönigs zum Kaiser - errichtet. Vorbild war die 250 Jahre ältere Basilika San Vitale in Ravenna. 1414 wurde die Chorhalle mit ihren riesigen Fenstern angebaut, mit 27 Metern die höchsten gotischer Kirchenbauten. Ich konnte mich kaum sattsehen an der goldenen Pracht des mittelalterlichen Karlsschreins mit den Gebeinen des Kaisers, der im Chor steht. »Der Aachener Dom ist nicht der größte, aber der gemütlichste«, hat der in Aachen legendäre Prälat und Domkapitular Erich Stephany (1910 bis 1990) gesagt. Ich habe ihn als Kind geliebt, weil er Schulklassen bei Domführungen immer von einer hohen Balustrade hinunterspucken ließ, damit die Kinder ein Gefühl für die gewaltige Höhe des Bauwerks bekamen.
Zuhause stellte ich mit kupfernen Blumentöpfen und silberglänzenden Kerzenleuchtern die Domschatzkammer nach, den bedeutendsten Kirchenschatz nördlich der Alpen. Aachen-Besucher dürfen ihn nicht verpassen - Dom- und Domschatz bilden eine Einheit. In der Schatzkammer steht der römische Marmorsarkophag, in dem Karl der Große ursprünglich beerdigt wurde. Doch weder dafür hatte ich als Kind einen Blick noch für das tausend Jahre alte Lotharkreuz mit seinen 100 Edelsteinen. Die silbern-goldene Karlsbüste dagegen zog mich in ihren Bann. So sah er also aus, mein Kaiser Karl: ein stolzer Mann mit ebenem Gesicht, lockigen langen Haaren und einem gepflegten Vollbart. Für mich war Karl der Größte. Dass die Darstellung aus der Mitte des 14. Jahrhunderts den Kaiser idealisierte, begriff ich nicht. Und den schlichten Thron im Obergeschoss des Oktogons hielt ich als Kind eines Kaisers nicht würdig. Da überzeugt es mich auch nicht, dass zwischen 936 und 1531 nicht weniger als 30 deutsche Könige nach ihrer Krönung im Aachener Dom auf dem Thron Karls des Großen gesessen haben. Zur Huldigung des neuen Herrschers konnten Untertanen durch eine Art Durchgang im Thron unter dem König hindurchkrabbeln. Die Wände der Öffnung zum Durchkriechen sind vor lauter Demutsbekundungen im Lauf der Jahrhunderte ganz glatt gerieben.
So ein großes Reich wie das des Frankenkaisers hat es seither nicht mehr gegeben. Lehrer erzählten im Unterricht viel von seinen Verwaltungs- und Bildungsreformen. Im Geschichtsunterricht nannte ihn ein Lehrer »Sachsenschlächter«, weil er sein Reich durch brutale Christianisierung der Sachsen ausgedehnt habe. Ich habe ihn dafür gehasst - den Lehrer. Heute weiß ich, dass Karl in seiner 46-jährigen Regentschaft nur zwei Jahre Frieden hielt. Auch das wollte ich nicht hören: Karls vierte Ehefrau Fastrada soll das Blutgericht von Verden mit 4500 abgeschlachteten Sachsen initiiert haben. Ich glaubte mehr an die romantische Geschichte, dass Karl seiner geliebten Fastrada einen Ring schenkte, der ewige Liebe versprach. Als Fastrada starb, kam der Kaiser fast um vor Kummer - bis Erzbischof Turpin von Reims der toten Fastrada den Ring vom Finger zog und in den Teich der Burg Frankenberg warf. Der Bann war gelöst.
Die Ansicht, dass die vielfach restaurierte Burg Frankenberg in Aachen auf Karl den Großen zurückgeht, ist falsch. Sie wurde erst in der Mitte des 14. Jahrhunderts in einer Urkunde erwähnt. Bis 2010 war in der Burganlage ein Heimatmuseum untergebracht, dessen Exponate jetzt im Centre Charlemagne ausgestellt sind, Aachens diesen Januar eröffnetem neuen Heimat- und Geschichtsmuseum. Wie der Name verrät, spielt Karl der Große in dem Stadtmuseum die Hauptrolle. Es ist in einem Verwaltungsgebäude am Katschhof untergebracht, einem Platz zwischen Dom und gotischem Rathaus. Dieses wurde auf den Grundmauern der karolingischen Kaiserpfalz errichtet. Der benachbarte Granusturm stammt aus der Zeit des Kaisers. Im Centre Charlemagne startet auch die Route Charlemagne, an der die bedeutendsten Sehenswürdigkeiten der Stadt liegen.
Dass Aachen den Kaiser, der diese Stadt zum Zentrum Europas machte, auf allen Ebenen vermarktet, versteht sich von selbst. Die Stadt ist mit dem aachen tourist service (ats) gesegnet, der u. a. den kleinen Stadtführer »Kaiser Karl führt durch Aachen« (3,90 Euro) herausgibt. Er führt auf 1,5 Kilometern zu den wichtigsten Sehenswürdigkeiten. 140 Bronzenägel im Boden markieren den Rundgang. Die Nägel tragen das Karlssiegel - und werden für 49,95 Euro das Stück auch verkauft.
Größter Werbemotor für Aachen und seinen Kaiser ist der Karlspreis, der alljährlich an eine Persönlichkeit verliehen wird, die sich um die europäische Einigung verdient gemacht hat. Wen habe ich als Kind da nicht alles reden hören - de Gasperi, Adenauer, Churchill. Damals, 1956, sah ich zum ersten Mal in meinen Leben Scharfschützen, die auch auf dem Dach des Rathauses lagen. Die Medaille, die den Karlspreisträgern überreicht wird, zeigt ein Bildnis Karls des Großen. Es stammt vom ältesten Stadtsiegel aus dem 12. Jahrhundert.
Zurück zum Dom. Zwei seiner Kapellen, die 540 Jahre alte Karls- und die gleichaltrige Hubertuskapelle, werden jetzt von einer auf derartige Verfahren spezialisierten Firma von der dem Stein schädlichen Patina gereinigt - im Rahmen eines Modellprojekts der Deutschen UNESCO-Kommission. Mit Argusaugen überwachen Dombaumeister, Denkmalpfleger und Restauratoren die Prozedur, die zwei Monate dauert.
Infos
Route Charlemagne: www.route-charlemagne.eu
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