Von Sheetal zu Sita

Das Opfer eines brutalen Gewaltaktes in Indien wartet noch immer auf Gerechtigkeit

  • Hilmar König, Delhi
  • Lesedauer: 5 Min.
Vor fast zwei Jahren wurde die Inderin Sheetal von drei Männern entführt, vergewaltigt und unter einen Zug gestoßen. Sie verlor beide Beine. Heute geht die junge Frau, die eigentlich Sita heißt, zur Schule.

Im Leben Sheetals, der jungen behinderten Inderin, über die »nd« in Abständen seit dem Frühjahr 2014 berichtet und die solidarische Unterstützung aus unserer Leserschaft erhält, gibt es ein paar neue, bemerkenswerte Kapitel: Sie heißt in Wirklichkeit Sita und ist gerade von der 8. in die 9. Klasse versetzt worden.

Die jetzt 20-Jährige war im September 2013 im indischen Unionsstaat Rajasthan Opfer eines Verbrechens geworden. Drei Männer hatten sie entführt, geknebelt, gefesselt und vergewaltigt. Als Sita, wie »nd« sie von jetzt ab mit ihrem richtigen Namen nennen wird, entschlossen äußerte, sie werde die Verbrecher bei der Polizei anzeigen, warfen diese sie vor einen nahenden Zug. Die Absicht war, das Mädchen zu töten. Es überlebte, doch ihm wurden beide Beine bis über die Knie abgefahren. Eine Katastrophe nicht nur für sie, sondern für die ganze Familie, denn als Bauarbeiterin verdiente sie bis dahin als einzige den Lebensunterhalt für alle.

Sita erstattete Anzeige. Zwei Täter sitzen seitdem in Untersuchungshaft, einer ist gegen Kaution frei. Der Gerichtsprozess tritt auf der Stelle, weil die aus ärmlichsten Verhältnissen kommende junge Frau, die sich lediglich zwei Mahlzeiten am Tag leisten kann, kein Geld hat, um die Beamten zu zügigerem Handeln zu veranlassen. Mit einer Unterschriftenkampagne »Support Sita from Chittorgarh« versuchen Menschenrechtler, Druck auf die Justiz auszuüben, damit das Verfahren in Gang kommt. Zugleich soll erreicht werden, dass das Gewaltopfer endlich die volle, ihm gesetzlich zustehende staatliche Entschädigung für Behinderte erhält.

Unabhängig davon kämpft Sita um Gerechtigkeit. Mehrmals unterbreiteten ihr Angehörige der Täter lukrative Angebote, wenn sie die Anzeigen zurücknehmen würde. »Das kommt niemals in Frage«, sagte Sita aufgebracht, »sie haben mich geschändet und verstümmelt. Für den Rest meines Lebens bin ich als Opfer von Gewalt gezeichnet. Es ist so peinlich, wenn Passanten mich angaffen, auf die Stümpfe zeigen und vielleicht noch wissen wollen, was mir passiert ist.«

Wie kam es nun zum »Namenswechsel«? Indiens Gesetze verbieten es, die Identität einer Vergewaltigten preiszugeben. Daran hielt sich »nd« und verwendete den fiktiven Vornamen Sheetal. Nun aber trat sie in einer 45-minütigen Dokumentation des staatlichen Fernsehens im Rahmen einer Sendung über Frauen, die ihr Schicksal meistern auf. Dort wurde ihre Identität enthüllt. Somit ist das Tabu gebrochen.

Sita machte übrigens bei ihrem TV-Auftritt eine ausgesprochen gute Figur. Sie zeigte keinerlei Nervosität und berichtete vor Millionen Zuschauern souverän über das, was ihr widerfahren war und was sie in Zukunft vorhat. All das Übel in ihrem Leben, die Kinderarbeit, die Heirat als Elfjährige, vom Gatten Verstoßene, Opfer eines Sexualverbrechens, der Mordanschlag, die Bestechungsversuche, all das hat sie offenbar gestählt. Natürlich gab es Momente, da sie von bösen Erinnerungen und Emotionen überwältigt wurde. So als sie von ihrem Lebensretter erzählte. Der fand sie in jener Horrornacht anderthalb Stunden nach dem Verbrechen, um Hilfe wimmernd, ohne Beine zwischen den Gleisen liegend.

Um Sita kümmert sich eine Nichtregierungsorganisation, die auch ihren Schulbesuch organisiert. Über die 5. Klasse war sie in ihrem jungen, harten Leben bislang nicht hinausgekommen. Als Schwerbehinderte kann sie anstrengende körperliche Arbeit, an die sie gewöhnt war, nicht mehr verrichten. »Ich muss nun meinen Kopf entwickeln«, formuliert sie die neue Aufgabe. Als sie im vorigen Jahr in einer kleinen Dorfschule in der 6. Klasse anfing, merkten die Lehrer schnell, Sita weiß und kann mehr. Also durfte sie die 6. und 7. Klasse überspringen. Dieser Tage hat sie mit guten und durchschnittlichen Zensuren den Abschluss der 8. Klasse geschafft. Sie will bis zur 10. Klasse durchhalten. Die Dokumentation zeigte, dass sie ab und zu sogar als Hilfslehrerin in kleineren Klassen einspringt, wenn die reguläre Lehrerin verhindert ist.

Was wird sie nach Abschluss der 10. Klasse machen? »Ich würde gern als Schneiderin mein Geld verdienen, weil ich nicht immer von Spenden abhängig sein möchte.« Momentan geht es aber noch nicht anders. Dass sie inzwischen einen eigenen Rollstuhl und Prothesen besitzt, verdankt sie auch »nd«-Lesern. Aber die Prothesen halten nicht ewig und um eines Tages ein möglichst selbstständiges Leben führen zu können, sind freilich noch viele Anschaffungen, vom Hausrat bis zu Möbeln für eine eigene Wohnung, nötig.

Als Sita nach dem Trauma der Vergewaltigung und dem Verlust ihrer Beine glaubte, noch mehr Schicksalsschläge könnte es nicht geben, kam es im Sommer vorigen Jahres zu einer erschütternden Auseinandersetzung zwischen ihr und ihrer Mutter. Die konnte nicht verkraften, dass die Tochter kein Geld mehr verdiente, sondern nur noch eine Belastung war. Sie kassierte die erste Rate der staatlichen Entschädigung, ohne Wissen Sitas. Auch dieses Geld versucht »Support Sita from Chittorgarh« nun wieder zurückzuholen.

Viel schlimmer wurde es noch, engagierte sie doch für die Tochter einen Freier und wollte sie so mit einer »neuen Beschäftigung« auf die schiefe Bahn bringen. Als Sita sich gegen diese schmutzige Absicht wehrte, ihre Mutter und die Welt nicht mehr verstand und die Polizei einschaltete, warf die Mutter sie aus der Wohnung. Vorerst braucht sie deshalb Unterstützung, damit sich ihre bescheidenen Wünsche erfüllen: Abschluss der 10. Klasse, Wohnung und Job.

»Support Sita from Chittorgarh« ruft zu Spenden auf folgendes Konto auf: Sita Prajapat, Bank Of Baroda, Kapasan, Rajasthan, India, BARB0KAPASAN, Microcode: 12012250, Kontonummer: 18890100017243

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