Ende einer Achterbahnfahrt

Tony Martin erfüllte sich auf der Tour de France endlich den Traum vom Gelben Trikot. Nun musste er aufgeben

  • Tom Mustroph, Le Havre
  • Lesedauer: 5 Min.
Als »Achterbahnfahrt« bezeichnete Tony Martin selbst seine sechs Tage bei der Tour de France. Mit seiner langen Jagd nach Gelb und dem plötzlichen Sturz den Tourannalen fügt er ein ganz besonderes Kapitel hinzu.

Als »Achterbahnfahrt« bezeichnete Tony Martin selbst seine sechs Tage bei der Tour de France. Und er wusste nicht, ob er darüber weinen oder lachen soll. Zwar hatte sich der Cottbuser seinen großen Traum erfüllt, einmal das Gelbe Trikot beim größten Radrennen der Welt zu tragen. Er bekam das Leibchen sogar für drei Tage überreicht. Aber er hatte es sich sehr mühsam erkämpfen müssen. Und: Am Ende raubte ihm ein Sturz, für den er selbst die meiste Verantwortung trägt, das geliebte Textil. Er musste nach der sechsten Etappe wegen eines Schlüsselbeinbruchs die Tour am Donnerstagabend sogar verlassen.

In tiefstem Herzen liebt Tony Martin gar keine Kurven. Als Zeitfahrer hat er gelernt, sie so zu schneiden, dass er so wenig wie möglich Tempo verliert, dabei durch die Fliehkräfte nicht herausgetragen wird und ihm auf dem Belag auch das Hinterrad nicht wegrutscht. Seine Welt sind die Geraden. Hier kann er seine Beinkraft ausspielen, sich auf seinen Organismus verlassen, der Sauerstoff in die Muskelzellen pumpt, die dann die mechanische Arbeit verrichten. »Tony kann wie ein Uhrwerk arbeiten. Er kann sich dabei schinden. Je länger die Strecke, desto größer wird seine Überlegenheit«, charakterisiert Rolf Aldag, Entwicklungsdirektor beim Team Etixx Quick Step, der Martin seit Beginn der Karriere betreut, seinen Schützling.

Martin ist ein penibler Zeitfahrer, der stundenlang auch über Materialfragen debattieren und im Windkanal Millimeteränderungen für die Sitzposition ausprobieren kann. Er ist ein geradliniger Typ. Bei dieser Tour de France aber hat er Volten geschlagen. Es begann gleich am ersten Tag. Für das Zeitfahren über 13,8 Kilometer war er der Favorit. Seit Januar hatte er darauf hingearbeitet. Dann aber war einer schneller. Nicht Fabian Cancellara, sein alter und alternder Rivale, der ihm zwei Mal schon Prologsieg und Gelbes Trikot weggeschnappt hatte. Nicht Tom Dumoulin, der neue Star aus Holland, der dem Startgastgeber nach 25 Jahren endlich wieder ein gelbes Leibchen bringen sollte. Es war mit dem Australier Rohan Dennis ein Mann, den nicht viele, aber immerhin doch Martin, auf der Rechnung hatten. »Das war eine große Enttäuschung für mich. Ich habe auf dieses Ziel so lange hingearbeitet«, meinte er danach - und versprach, nicht auf den nächsten Prolog in zwei oder drei Jahren zu warten, sondern hier, bei dieser Tour de France, um seine Chance auf Gelb zu kämpfen.

Die Entschlossenheit, die Martin bisher zuallererst in der Subdisziplin Zeitfahren ausgezeichnet hatte, übertrug er jetzt auch für eigene Ziele auf die konventionellen Etappen. Er war auf dem zweiten Tagesabschnitt der große Motor, der nach einer Windkante den ersten Teil des Pelotons vom zweiten, in dem Gelbträger Dennis steckte, davonfuhr. »Der Fisch war gegessen. Dennis war abgehängt. Vorn waren drei Sprinter, die die Bonussekunden holen, so dass Tony automatisch in gelb kommt. Doch dann wird bei fünf Mann, die sprinten, dein eigener Sprinter Vierter und Cancellara kriegt noch den Bonus«, raufte sich Aldag mit Bezug auf Etixx-Sprinter Mark Cavendish die Haare. Martin ging wieder leer aus. Statt fünf Sekunden Rückstand auf Dennis waren es jetzt deren drei auf Cancellara.

Am dritten Tag kämpfte er wieder - und keuchte die Mauer von Huy hoch. Die ist nur 1,3 Kilometer lang, weist aber Steigungen von bis zu 19 Prozent auf. »Da ackert jeder für sich allein, da kannst du niemandem helfen«, analysierte Aldag. Und Martin, der Einzelkämpfer gegen die Uhr, nahm es mit dem Berg auf. Er blieb in Sichtweite der Ersten. Doch Chris Froome, Toursieger 2013, machte ihm einen Strich durch die Rechnung. Der Brite attackierte und löste sich aus der Favoritengruppe. Tagessieger Joaquim Rodriguez erreichte er nicht mehr, wurde aber mit der gleichen Zeit wie der Spanier gewertet. Dabei hatte er 0,93 Sekunden Rückstand. Aber der Zeitmesser der Tour rundet nicht. Es zählt die Ziffer vor dem Komma. Und Froome bekam eine Sekunde Vorsprung auf Martin, obwohl es doch nur 0,07 Sekunden waren - eine Distanz für einen 100-Meter-Lauf, nicht aber 339,3 Kilometer, die bis dahin zurückgelegt waren. »Da haben wir gedacht, das Schicksal stellt uns auf eine sehr harte Probe«, bilanzierte Aldag.

Die Erlösung kam tags darauf: Auf der vierten Etappe war Martin wieder einer der Protagonisten. Er war wild entschlossen, sich das Trikot zu holen. Auf den Pflastersteinabschnitten wirbelte er mit mächtigem Tritt Staubfahnen auf, die die Folgenden eindeckten. Der Zeitfahrer mutierte zum Klassikerfahrer. Doch plötzlich war er vorn nicht mehr zu sehen. Ausgepumpt? Verkalkuliert? Nein, wieder Pech: ein Plattfuß. Die Geschichten der früheren Misserfolge tauchten auf. Die Reißzwecke von Lüttich, die vor drei Jahren den angestrebten Prologsieg in eine Schimäre verwandelte. Der Irrtum vom Mont Ventoux 2009, als Martin sich im Zielsprint verschätzte und die prestigeträchtige Etappe an den körperlich schwächeren, aber erfahreneren Spanier Juan Manuel Garate abgab. Der Kahnbeinbruch von 2012, der Olympiagold verhinderte.

Jetzt allerdings, am Tag vier dieser Tour de France, war Martin das Glück hold. Erst gab ihm Teamkamerad Matteo Trentin sein Rad. Das passte zwar nicht. »Ich habe viel zu hoch gesessen, die Hebel für die Bremsen waren vertauscht«, erzählte Martin später. Aber er schaffte wieder den Anschluss an die erste Gruppe. Und dort trieb ihn das drohende Szenario des erneuten zweiten Platzes zu einer verzweifelten Attacke. »Ich dachte, wenn ich jetzt in der Gruppe bleibe, in der auch Froome ist, dann bleibe ich wieder eine Sekunde hinter dem Gelben Trikot. Also habe ich alles auf eine Karte gesetzt und bin angetreten.« So richtig vom Erfolg war er nicht überzeugt. Aber er versuchte es. Und es klappte.

Auf dem falschen Rad kam er endlich zu seinem Gelben Trikot. Zwei Tage später verlor er es. Noch am Abend im Teamhotel hatte er aber schon wieder Distanz zum Pech eingenommen. »Ich habe hier bei der Tour meinen Traum vom gelben Trikot erfüllt. Bis zum Etappensieg war das eine Achterbahn der Gefühle. Der Sturz heute setzt allem die Krone auf. Aber ich hoffe, dass ich über den heutigen Tag später nur noch schmunzeln kann.« Er sagte es, und schmunzelte schon.

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