Die Emanzipation des Südens
Der Ökonom Jörg Goldberg über die vielen Wege, die zur Entwicklung führen
Und »sie« bewegt sich doch. Die durchschnittliche Lebensdauer der Menschen auf der Erde ist um 16 Jahre gestiegen; der Anteil der Armen an der Weltbevölkerung ist nach offiziellen Angaben seit 1990 um mehr als die Hälfte gesunken. Wirtschaftliches Wachstum findet nicht mehr allein in China, Südostasien und arabischen Ölstaaten statt. Sieben der zehn am schnellsten wachsenden Volkswirtschaften der Welt sind afrikanische Länder. Doch ein allgemeines Erfolgsrezept für Entwicklung gibt es nicht.
In zweihundert Schwellen- und Entwicklungsländern findet gerade ein »Experiment« statt: Der Siegeszug des Kapitalismus! »Während bis noch vor wenigen Jahrzehnten nur etwa ein Fünftel der Weltbevölkerung in Gesellschaften lebte, die von der kapitalistischen Produktionsweise geprägt waren«, schreibt Jörg Goldberg, »ist es heute die große Mehrheit.« Der weltgewandte Frankfurter Ökonom wirft linken Beobachtern in seinem neuen Buch einen »eurozentristischen Blick« vor.
Es sei ein »Missverständnis«, die im Westen herrschenden gesellschaftlichen Institutionen mit der kapitalistischen Produktionsweise gleichzusetzen. Selbst in Europa habe sie gezeigt, dass sie sich sowohl mit brutalen Unterdrückungsmethoden als auch mit umfassender staatlicher Regulierung oder Monopolwirtschaft »hervorragend vertragen kann«. Goldbergs Kernthese: Die gegenwärtigen Erfolge der früheren »Dritten Welt« sind »nicht trotz, sondern wegen ihrer historisch gewachsenen, vermeintlich vormodernen, nicht-liberalen Institutionen und Organisationen erreicht worden«. Goldberg wendet sich damit gegen »Weltsystemtheoretiker« wie Immanuel Wallerstein oder Fernand Braudel, die den Weltmarkt als wichtigste Analyseebene ansehen. »Die meisten Länder des Südens haben sich heute von der Dominanz westlicher Institutionen emanzipiert.«
Inzwischen entfalte sich der regionale Kapitalismus »im Rahmen bestehender Gesellschaften, die ihrerseits natürlich viel älter sind«. Dabei werden die »historischen Milieus« in China, Kenia oder Nicaragua nicht einfach verschwinden, sondern seien wandelnde Konstanten, die zu unterschiedlichen Kapitalismen führ(t)en und führen werden. Das heiße auch: »Der Süden« ist eine Fiktion. Die Unterschiede zwischen den Ländern werden sogar zunehmen. Und als »traditionell« betrachtete Elemente, wie die Gleichzeitigkeit von Lohnarbeit und Kleinbauerntum, verschwinden nicht, wie es Marx »Kommunistisches Manifest« nahelegt, sondern behaupten sind.
Solche Variationen des Kapitalismus geben dem politischen und wirtschaftlichen Eingreifen erst einen sozialen Sinn. Nationale Politik kann trotz Globalisierung Ansatz für Fortschritt sein. Denn darin dürfte Goldberg mit nicht-marxistischen Entwicklungsforschern wie Rainer Thiele vom Institut für Weltwirtschaft in Kiel übereinstimmen: Entwicklungshilfe und wirtschaftliche Zusammenarbeit können Sinn machen; aber jedes Land werde sich nur nachhaltig entwickeln, wenn es ordentlich regiert wird. Die ärmsten Länder seien zumeist solche, die besonders schlecht regiert würden.
Zum Aufstieg bedarf es eines weiteren »endogenen Faktors«: Der Abnabelung von Multis. Ob die Länder des Südens beispielsweise von Produktionsverlagerungen aus dem Norden nachhaltig profitieren, hängt wesentlich von ihrer Fähigkeit ab, wertschöpfungsintensivere Teile der Produktionsketten auszuführen. Ob dies gelingt, wird auch durch internationale Regeln und Institutionen des Weltmarkts bestimmt. Goldberg lässt uns teilhaben an seinen Beobachtungen in vielen Ländern und verwöhnt uns mit spannenden Einschätzungen. Eine davon: Die neuen Weltmarktakteure werden nicht anders agieren als die bisher dominierenden Regierungen und Konzerne des Nordens.
Goldberg, Jörg: Die Emanzipation des Südens: Die Neuerfindung des Kapitalismus aus Tradition und Weltmarkt, Papyrossa Verlag, Köln 2015, 326 Seiten, 18,90 Euro.
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