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Kali nichta - Gute Nacht, Griechenland
Warum Vladimiro Giacché davor warnt, das Modell der deutschen Vereinigung in Europa zu kopieren
Während der eine am 1. Juli im Bundestag die deutsche »Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion« als Vorbild für Europa pries und gegen die widerständigen Griechen wetterte, warnte der andere einige Kilometer Luftlinie entfernt im ehemaligen Jüdischen Waisenhaus in Berlin-Pankow davor, die Art und Weise der deutschen »Vereinigung« zu kopieren. Man hätte sich beide, Finanzminister Wolfgang Schäuble und den Wirtschaftswissenschaftler Vladimiro Giacché im Streitgespräch miteinander gewünscht. Der 1963 geborene Italiener, Leiter des Zentrums für europäische Studien in Rom, hat ein Buch mit dem vielsagenden Titel »Anschluss« geschrieben. In beispielloser Akribie und anhand beredten Faktenmaterials zeichnet er kompakt und kenntnisreich die Geschichte der Kolonialisierung Ostdeutschlands nach.
Im kollektiven Gedächtnis nicht nur der Deutschen ist die deutsche Vereinigung mit den Bildern zweier Nächte verbunden: zum einen die des 9. Novembers 1989, an dem die Berliner Mauer zum Einsturz gebracht wurde, zum anderen die des 1. Juli 1990, als Schlag Mitternacht Massen von DDR-Bürgern zu ihrer Bank stürzten, um ihre Mark in Westmark umzutauschen. Giacché nahm sich der zweiten Nacht an, die er als einen »point of no return« markiert. Das wäre zu diskutieren: Hat nicht schon die Novembernacht einen irreversiblen Prozess ausgelöst?
Wie auch immer, tatsächlich ist die Blitzvereinigung bereits wenige Wochen nach dem Mauerfall in einer Arbeitsgruppe des Bonner Finanzministeriums gesponnen worden. Der vom damaligen Staatssekretär und späteren IWF-Generaldirektor sowie Bundespräsidenten Horst Köhler geleiteten Arbeitsgruppe gehörte Rechtspopulist Thilo Sarrazin an. Dieser schlug im Dezember 1989 Finanzminister Theo Waigel und damit auch Bundeskanzler Helmut Kohl die Durchführung einer »Wirtsschafts- und Währungsunion zum frühestmöglichen Zeitpunkt« vor. - Merke: Von »Sozialunion« ist keine Rede. Im Januar 1990 konkretisierte Sarrazin seinen »Vorschlag zur unverzüglichen Einführung der D-Mark in der DDR im Austausch gegen Reformen«. - Wie einfallslos: Damals wie heute die gleiche Erpressungstour, das gleiche Erpressungsvokabular.
Die Déjà-vu-Erlebnisse nehmen während der Lektüre dieses Buches kein Ende. Und das betrifft nicht nur die Treuhand, die zu Griechenlands Wehe wiederbelebt werden soll. Kohl stellte der DDR-Regierung einen Kredit von 15 Milliarden DM in Aussicht, wenn sie ihre »Hausaufgaben« mache, das hieß damals: die Planwirtschaft abschaffen. »Im Ergebnis wurde die Anleihe nicht gewährt, weil der Kanzler die Hausaufgaben schlecht benotet hat«, mutmaßt Giacché und verweist darauf, dass in den letzten Jahren Italien sorgfältig die von Berlin und Brüssel diktierten »Hausaufgaben« erledigt habe - mit dem Ergebnis: Die Binnennachfrage ist stark zurückgegangen, Produktionskapazitäten wurden vernichtet, die Krise ist nicht überwunden.
Um keine falschen Erwartungen zu schüren: Giacché befasst sich nicht explizit mit der Euro-Krise und der griechischen Tragödie. Erst auf den letzten Seiten seiner Studie vergleicht er, schaut ins Heute und resümiert die Lehren der Geschichte des Anschlusses der DDR: »Sie liefert an erster Stelle ein stringentes Beispiel für die Funktionsweise des Kapitalismus - des realen Kapitalismus, nicht den der Theorien über die perfekte Konkurrenz, die an den Management-Schulen gelehrt werden.« Sie bestätige Marxens Theorie über das Verhältnis von Ökonomie und politischem Überbau. Die Politik tanzt nach der Pfeife des Großen Geldes. Der Anschluss der DDR lehre zudem, so Giacché, »dass es möglich ist, rasch und vollständig von einem Gebiet Besitz zu ergreifen, ohne irgendeine Rücksicht auf Land und Leute zu nehmen. Man hält sich nur an eigene Regeln, interpretiert von eigenen Richtern, und tut dies mit Unterstützung eigener Pressuregroups und eigener politischer Parteien.«
Giacché zerfetzt mehrere Mythen, darunter die vom Bankrott der DDR-Wirtschaft. Er räumt mit der Mär von der hoffnungslosen Überschuldung des ostdeutschen Staates auf (Berlin ist heute um ein vielfaches ärger verschuldet) und kritisiert, wie mit den sogenannten Altschulden der Volkseigenen Betriebe (VEB) umgegangen wurde. Er zitiert ostdeutsche Politiker und Ökonomen, darunter Hans Modrow und Christa Luft sowie Edgar Most, Vizepräsident der Staatsbank der DDR, und den kürzlich verstorbenen Siegfried Wenzel von der Staatlichen Plankommission. Auch auf namhafte westdeutsche Wirtschafts- und Finanzexperten beruft sich der Autor, so auf den seinerzeit Bedenken artikulierenden, jedoch unerhört gebliebenen Bundesbankpräsidenten Karl Otto Pöhl. Oder Treuhandchef Detlev Karsten Rohwedder, der im November 1990 wider seine Kollegen, die westdeutschen Liquidatoren schimpfte: »Diese Herren haben keine Ahnung davon, wie schnell man zwar einen 1000-Mann-Betrieb liquidieren kann, wie wahnsinnig schwer es aber ist, ihn wieder aufzubauen - mit erstklassigen Maschinen, Marktverbindungen, sicheren Arbeitsplätzen.«
Es kam, wie es kommen musste, kommen sollte. Oder, wie Giacché kommentiert: »Die Dinge sind genau wie vorgesehen gelaufen.« Echte oder vermeintliche Konkurrenz wurde plattgemacht, lediglich einige ostdeutsche Unternehmen durften als »verlängerte Werkbank« westdeutscher Firmen überleben. Die ostdeutsche Wirtschaft wurde zu einer »Filialökonomie« degradiert. Während der Osten verarmte, verdoppelte sich die Zahl der Millionäre im Westen. Hanseatisch-nüchtern sprach dies 1996 Hamburgs Bürgermeister Henning Voscherau aus: »In Wahrheit waren fünf Jahre Aufbau Ost das größte Bereicherungsprogramm für Westdeutsche, das es je gegeben hat.« Auf die Früchte »blühender Landschaften« warten Ostdeutsche vielfach vielerorts noch heute. Blüht gleiches den Griechen? Na dann, Kali nichta. Gute Nacht, stolzes Hellas.
Giacchés Prognose ist nicht ganz so düster. Zwar entdeckt er die in Ostdeutschland registrierten Probleme auch in den Euro-Krisenländern, aber »nicht so brutal«. Dazu zählt er Deindustrialisierung, Arbeitslosigkeit, Rückgang des Bruttoinlandsprodukts, Handelsbilanzdefizite, wachsende staatliche Verschuldung, Abwanderung etc. Was schlägt der Wissenschaftler vor? Eine Abkehr von der merkantilistischen Wirtschaftspolitik und dem deutschen Modell, das Lohnsenkung als Königsweg suggeriert. »Es ist dieses Modell, das Europa verarmen lässt und die inneren Ungleichgewichte verschärft.«
Giacché warnt vor dem Verkauf von Staatsvermögen, dem Abbau von Sozialleistungen und Rentenkürzungen. Nicht nur Griechenland drohe ansonsten, ein Mezzogiorno wie Ostdeutschland zu werden. Statt auf die Große Koalition in Berlin sollten die Europäer auf eine Staatenkoalition setzen, die mit der Austeritätspolitik bricht und Deutschland die Gefolgschaft verweigert. Frankreich stehe am Scheideweg: Wird die Grande Nation der Grande Révolution die Agenda 2010 kopieren oder beherzt einen Aufstand der Südländer gegen deutsche Anmaßung und Arroganz anführen? SYRIZAs Griechenland hat es leider nicht geschafft.
Vladimiro Giacché: Anschluss. Die deutsche Vereinigung und die Zukunft Europas. Laika- Verlag, Hamburg. 167 S., br., 22 €.
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