Kein Sickereffekt in Indien

Trotz Wirtschaftswachstum leben viele der 1,2 Milliarden Einwohner laut Zensus im Elend

  • Neeta Lal, Delhi
  • Lesedauer: 3 Min.
Die drittgrößte Volkswirtschaft Asiens floriert auf der Makroebene. Doch ein Großteil der mehr als 1,2 Milliarden Einwohner lebt im Elend, obwohl Milliarden Dollar in die Sozialsysteme fließen.

Die Ergebnisse des ersten sozioökonomischen Zensus auf dem Subkontinent zeigt, dass ein Großteil der mehr als 1,2 Milliarden Einwohner im Elend lebt. Die in 640 Distrikten unter Aufsicht des Ministeriums für ländliche Entwicklung durchgeführte Untersuchung hat ergeben, dass die Hälfte der 179 Millionen befragten Familien in ländlichen Gebieten leben. Mehr als 60 Prozent der untersuchten ländlichen Haushalte werden in dem Zensus als »sozial schwach« eingestuft. In mehr als der Hälfte der Fälle reicht das Einkommen des Hauptverdieners kaum aus, um die Familie zu ernähren. Der Verdienst beläuft sich auf durchschnittlich weniger als 80 US-Dollar im Monat (etwa vier Dollar pro Tag). Nur 20 Prozent dieser Familien verfügen über ein Fahrzeug und nur elf Prozent über grundlegende Haushaltsgeräte wie etwa einen Kühlschrank.

Nur etwa 14 Prozent der untersuchten Personen sind nicht im Agrarsektor beschäftigt, sondern in Behörden, Staatsunternehmen oder im Privatsektor. Weniger als fünf Prozent der ländlichen Haushalte zahlen Einkommenssteuer. Dies gilt auch für die wohlhabenderen Bundesstaaten wie Kerala, Tamil Nadu und Maharashtra.

»Der Zensus öffnet einem die Augen. Er zeigt deutlich, dass weite Teile der Bevölkerung nicht von dem hohen Wirtschaftswachstum profitieren, obwohl Milliarden Dollar in staatliche Programme für Armutsbekämpfung, Bildung und neue Jobs geleitet werden«, sagt Ranjana Kumari, Direktorin des Zentrums für Sozialforschung in Neu-Delhi.

Der Zensus habe verdeutlicht, dass die Armut seit Generationen präsent sei. Auch mehr als 60 Jahre nach der Unabhängigkeit lebten noch immer Millionen Menschen im Elend, ohne sichere Arbeitsplätze, Bildung und ein festes Dach über dem Kopf. »Entscheidungsträger in Politik und Wirtschaft verschließen vor dieser Realität die Augen«, kritisiert sie. »Alle Regierungen haben die Rechtlosen in krimineller Weise vernachlässigt.«

Menschenrechtsaktivisten weisen darauf hin, dass trotz groß angelegter Programme wie »Sarva Shiksha Abhiyan«, das sich der Sicherung von Bildung für alle verschrieben hat, in 23,52 Prozent aller Familien in ländlichen Gebieten kein einziger Erwachsener über 25 Jahren lesen und schreiben kann. Weniger als zehn Prozent kommen über einen Abschluss an einer weiterführenden Schule hinaus. Nahezu jeder zweite Bewohner der ländlichen Gebiete Rajasthans, dem flächenmäßig größten indischen Bundesstaat, ist Analphabet.

Trotz des seit 1985 durchgeführten Wohnungsbauprogramms »Indira Awaas Yojana«, eines der größten und umfassendsten Projekte dieser Art in der Geschichte des Landes, haben viele Menschen keine angemessene Unterkunft. Das Programm sieht die Zahlung finanzieller Hilfen vor, die die Arme zum Bau angemessener Wohnmöglichkeiten befähigen sollen. Etwa 30 Prozent aller Familien leben laut dem Zensus weiterhin auf engem Raum zusammen. Rund 100 Millionen Menschen - das Vierfache der Bevölkerung Australiens - wohnen in Hütten aus Gras, Bambus oder Plastik mit Stroh- oder Wellblechdächern.

Ökonomen raten zu Maßnahmen, die allen Menschen auf dem Subkontinent eine gleichberechtigte Teilhabe am Wirtschaftswachstum sichern können. »Etwa 60 Prozent aller Inder sind im erwerbsfähigen Alter«, sagt Kumari. »Doch nur ein geringer Teil davon hat Beschäftigung auf dem ersten Arbeitsmarkt gefunden. Wir müssen ein Ökosystem für rascheres Jobwachstum außerhalb des Agrarsektors schaffen.« IPS

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