Flucht, Vertreibung und ein Loblied auf die Schönheit der Welt

Europäische Nachwuchsschauspieler stellten im Grips-Theater im Rahmen des Projekts »Theatre Café« neue Stücke für Kinder und Jugendliche vor

  • Volker Trauth
  • Lesedauer: 4 Min.

Ein Projekt mit europäischen Dimensionen brachte im Jahre 2004 die Londoner Theatergruppe »Company of Angels« mit der Gründung von »Theatre Café« auf den Weg. Europäische Theaterleute, die sich vor allem dem Theater für Kinder und Jugendliche verpflichtet fühlen, sollten nach Stücken suchen, die ergründen können, was die Jugendlichen in Europa bewegt. Fünf »Theatre-Café«-Festivals haben in der Zwischenzeit an verschiedenen europäischen Schauplätzen stattgefunden, viele neue Stücke sind entstanden.

Immer wieder geht es dabei um das Zerbrechen von Familien. In »Alle Tage, alle Nächte« von Margareta Garpe hinterlässt ein sterbender Vater eine alkoholabhängige Frau und zwei Töchter Die Hinterbliebenen geraten unverschuldet in alle möglichen Mittelstandskrisen - ein Familiendrama, das handelnde Figuren und Zuschauer ratlos zurücklässt.

In »Deportation Cast« von Björn Bicker findet sich das Mädchen Elvira auf einer Müllkippe im Kosovo wieder. Sie ist aus Deutschland ausgewiesen worden, obwohl sie in einer Schule im Ruhrgebiet Fuß gefasst und Deutsch gelernt hat. Um Ausgrenzung geht es auch in Ad e Bonts Stück »Amin und Zef«. Der Albanerjunge Zef will nicht mehr aus dem Haus gehen, weil draußen wieder die Blutfehde ausgebrochen ist. Da fällt ihm »Das Tagebuch der Anne Frank« in die Hände. So wie die Heldin des Buchs will er ums Überleben kämpfen.

Zusammen mit professionellen Theatergruppen aus Oslo, London und Amsterdam richtet in den Jahren 2014 und 2015 das Grips Theater den sechsten Durchgang von »Theatre Café« aus und stellte im Dezember 2014 die von einer Jury ausgewählten Stücke vor. Auch in dieser Auswahl stehen Stück um Flucht und Vertreibung im Zentrum. In »Die besseren Wälder« von Martin Baltscheit fragt sich der junge Stückheld Ferdinand, wo auf der Welt ein Platz für ihn sein könnte. Er findet Unterschlupf bei einem kinderlosen Ehepaar, gerät aber schuldlos in Verdacht, seine Freundin Melanie umgebracht zu haben.

Als eine Art Pilotstück für poetische Schreibweisen wirkte das Stück »Unterm Kindergarten« des Norwegers Eirik Fauste. Wie im Tautropfen spiegelt sich darin die Welt. An der Fensterscheibe des Kindergartens zerschellt ein Vogel und wird von einem kleinen Jungen begraben. Der will Architekt werden und später Kindergärten bauen, an denen sich kein Vogel das Genick brechen kann.

Als zweiten Teil des Berliner Durchgangs von gab es am Mittwoch dieser Woche eine Abschlusspräsentation unter dem Titel »European Theatre Encounter«, in dessen Verlauf 18- bis 25-Jährige aus Oslo, Amsterdam, London und Berlin, die am Beginn ihrer Schauspielkarriere bzw. am Abschluss ihrer Schauspielerausbildung stehen, Ergebnisse eines Workshops zeigten.

Im Verlauf dieses Workshops hatten sie unter Anleitung von Berufsregisseuren Kernszenen von Stücken erarbeitet, die in einer Schreibwerkstatt geschrieben worden waren. Unter ihnen die Schüler einer Absolventenklasse der Schauspielakademie aus Amsterdam und die Mitglieder einer Vorbereitungsklasse für die Theaterakademie in London. Als Regisseure arbeiteten junge Schauspieler und Spielleiter, die Erfahrungen im Theater für junge Zuschauer gemacht hatten - wie das ehemalige Grips-Mitglied Jennifer Breitrück oder der norwegische Jungregisseur Oysten Barge.

In der Schreibwerkstatt entstanden ist das Stück »Natives«das sich auf ungewöhnliche Weise mit einer neuen Gefährdung der Jugendlichen auseinandersetzt. Ein junges Mädchen driftet in die Parallelwelt des Internet ab. Sie stürzt bei ihrer Beschäftigung mit dem Computer in ein schwarzes Loch und weiß nicht mehr, ob sie darin eine unbekannte Welt oder die Abgründe ihres eigenen Wesens entdecken kann.

Bei der Präsentation der Workshopergebnisse waren professionelle Ansätze erkennbar, im Schauspielerischen und Inszenatorischen. In Erinnerung bleiben wird beispielsweise das Bild, das die Aufführung des »Neuen Himmels« abschließt. Nach allen Katastrophen und Unglücksfällen formiert sich eine Gruppe und singt mit trotzigem Gestus ein Loblied auf die Schönheit der Welt und der Natur. Einer nach dem anderen aber tritt hängenden Kopfes ab, nur ein kleines Mädchen singt mit dünner Stimme das Lied zu Ende.

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.