Facettenreiche Hegemonie

Imperialismus? Der globale Kapitalismus lässt sich ohne die Macht einzelner Staaten nicht verstehen

  • Raul Zelik
  • Lesedauer: 9 Min.
Für die Emanzipation »der Vielen« gibt es keinen anderen Weg, als die Hegemonieverhältnisse innerhalb der Gesellschaften und grenzüberschreitend zu verschieben. Überlegungen zum globalen Empire und seinen Hegemonien.

Über nichts können sich Linke heutzutage so trefflich zerstreiten wie über die Frage nach den globalen Machtverhältnissen. Während die einen in Anbetracht des islamistischen Terrors der Ansicht sind, »der Westen« habe vielleicht doch eine ganz positive, weil irgendwie zivilisatorische Funktion, halten die anderen an liebgewonnenen Analysen fest und sehen die Weltpolitik ausschließlich von den Verschwörungen Amerikas bestimmt.

Offensichtlich herrscht große Ratlosigkeit darüber, wer wie im globalen Kapitalismus eigentlich herrscht: die USA, supranationale Institutionen wie der IWF oder doch eher subjektlos »das Kapital«?

Dass Ende des 19. Jahrhunderts zunehmend von Imperialismus und nicht mehr von Imperien, also »Reichen« die Rede war, hatte mit dem Aufstieg Großbritanniens zu tun. Anders als die frühen Kolonialreiche beruhte das britische Empire auf zwei völlig unterschiedlichen Machtformen: Zum einen ging es - ganz klassisch - um die Kontrolle von Territorien und Verkehrsrouten, zum anderen aber folgte man auch der Logik der - wie man mit Gilles Deleuze sagen könnte - Deterritorialisierung: des freigesetzten Flusses von Handels- und Kapitalströmen. Anders ausgedrückt: Großbritannien nutzte seine Kolonialherrschaft nicht einfach, um sich die Rohstoffe der Kolonien anzueignen, sondern um die Kolonisierten zum Handel zu zwingen. Das jedoch geschah nicht aus zivilisatorischer Überzeugung, sondern weil sich der Freihandel unter Voraussetzung ungleicher Entwicklung als extrem effiziente Form der Machtausübung erwiesen hatte.

Dieser Zusammenhang verweist auf ein grundlegendes Problem des Kapitalismus: Obwohl er auf der Freisetzung von Strömen beruht, kann es seine territoriale Bindung nie aufgeben. Alles Gerede von virtuellem Raum, sich selbst vermehrendem Geld, General Intellect, verflüssigten Produktionsformen usw. ändert nichts daran: Der Kapitalismus bleibt an Gegenständlichkeit gekettet - an Rohstoffe, Energieträger, Produktionsorte, reale Menschen -, und das wiederum bedeutet auch an Orte. Ja, die Bedeutung des Territoriums wächst heute sogar, da Rohstoffe, Baugrund und Ackerland verknappen.

Die territoriale Fessel des Kapitalismus hat aber auch noch eine zweite Dimension: Märkte brauchen Rechtssicherheit, und die kann nur von Staaten hergestellt werden, die gegenüber den einzelnen Marktakteuren »relativ unabhängig« sind. Staaten jedoch (auch neu entstehende »Supra-Staaten« wie die EU) sind per Definition das durchgesetzte, legitimierte Gewaltmonopol innerhalb eines Territoriums.

Anfang des 20. Jahrhunderts diskutierte die europäische Sozialdemokratie auf hohem Niveau darüber, inwiefern die Eigenschaft des Kapitalismus, Grenzen aufzuheben, aber gleichzeitig ans Territorium gefesselt zu bleiben, zu Krieg führt. Einig war man sich darin, dass sich das Kapital konzentriert und zunehmend mit den Nationalstaaten verschränkt. Die Frage war jedoch, ob diese Verbindung zu Krieg zwischen den europäischen Mächten führen muss oder nur kann. Lenins These lautete, dass die Interessen von Industrie-Trusts, Finanzkapital und Nationalstaaten so miteinander verschmolzen, dass die innerimperialistische Konkurrenz unvermeidbar wurde. Karl Kautsky hingegen war der Ansicht, dass auch so etwas wie ein »Ultraimperialismus« entstehen könne. Ähnlich wie das Kapital innerhalb von Staaten zu Trusts verschmelze, könne es sich auch international verflechten. Auf diese Weise könnte es zu einem Ende der Kolonialkonkurrenz kommen: Die mächtigen Staaten würden die globalen Herrschaftsverhältnisse dann als Verbündete verteidigen.

Die Weltkriege bestätigten zunächst Lenins Thesen, doch auch Kautsky bekam von der Geschichte recht. Ab 1945 war das kapitalistische Lager von einer eigentümlichen Hybris von Konkurrenz und Kooperation geprägt, die auch nach dem Ende des Kalten Kriegs anhielt.

In den 1990er Jahren läuteten viele Autoren das Ende des Nationalstaats ein. Die Globalisierung, so hieß es, mache den Staat überflüssig. IT-Technologien schleiften die Grenzen, supranationale Institutionen wie der IWF verwandelten sich in eine Art Weltregierung. Doch mittlerweile ist klar, dass sich diese Prognosen als falsch erwiesen haben. Virtuelles Geld mag in Mikrosekunden über den Globus rasen, und Griechenland eher von der EZB als von SYRIZA regiert werden (was die Frage aufwirft, ob Linksregierungen heute nicht in erster Linie als Widerstandsformen begriffen werden müssen). Aber gleichzeitig ist die Bedeutung der führenden Nationalstaaten keineswegs geschrumpft. Staaten entscheiden zwar nicht mehr souverän über ihre Sozialpolitik, aber in der Finanzkrise seit 2008 waren sie es, die dem klammen Finanzkapital 2 Billionen US-Dollar spendieren mussten. Und schließlich wird auch das Lebensniveau der Menschen - trotz wachsender Ungleichheit in den Industriestaaten - nach wie vor ebenso sehr durch Nationalität wie durch Klassenzugehörigkeit bestimmt. Mit dem Lebensstandard eines schweizerischen Facharbeiters gehört man in Burkina Faso zu den oberen fünf Prozent.

Der Staat ist also auch im globalen Empire kein Auslaufmodell, im Gegenteil: Er bleibt unverzichtbar, um internationale Machtasymmetrien abzusichern. Dabei ist es allerdings nicht so, dass Staaten einfach nur umsetzen, was ihnen von Banken und Konzernen diktiert wird. Staaten sind »verdichtete« Hegemonieverhältnisse. Das heißt, ihren Institutionen ist die Macht der Eliten eingeschrieben. Die Struktur der Justiz beispielsweise gewährleistet, dass die Besitzer großer Vermögen viel mehr Möglichkeiten haben, ihre Interessen geltend zu machen. Andererseits sind moderne Staaten aber auch der Garant dafür, dass diese Eliten (anders als Feudalherren) nicht »unmittelbar« herrschen. Wenn der Staat seine »Sonderung«, seine relative Eigenständigkeit gegenüber den Machtgruppen verliert, kehrt die Willkürherrschaft der Feudalherren und Warlords zurück. Freier Handel und Konkurrenz werden unmöglich.

Doch was bedeutet das für die Weltordnung? In den 2000er Jahren wurde vor allem über Michael Hardts und Antonio Negris Buch »Empire« debattiert. Doch überzeugender ist der Ansatz, auch internationale Beziehungen hegemonietheoretisch zu erklären, wie ihn der italienische Wirtschaftshistoriker Giovanni Arrighi oder die kanadischen Ökonomen Leo Panitch und Sam Gindin verfolgt haben.

Panitch und Gindin zeigen in »The Making of Global Capitalism«, wie sehr der Weltkapitalismus der Gegenwart mit der US-Hegemonie verschränkt ist. Ab 1945 übernahmen die USA die Rolle eines internationalisierten Staats, der nicht allein die Interessen des US-Kapitals (oder gar der US-Bevölkerung), sondern auch die anderer Kapitale verteidigte. Dass es dabei zwar auch, aber eben nicht in erster Linie um nationalstaatliche Interessen ging, zeigt sich u.a. darin, dass Japan und Westeuropa industriell aufgebaut wurden, obwohl man damit eine Konkurrenz für US-Unternehmen heranzog.

Panitch und Gindin zeigen aber auch, dass diese Hegemonie so facettenreich aufgebaut ist, dass die USA die Kontrolle über das globale System bis heute nicht aus der Hand gegeben haben. Mithilfe des IWF kann Einzelstaaten die Wirtschaftspolitik diktiert werden. Solange der Dollar als Leitwährung fungiert, sind die USA vom Zwang befreit, eine ausgeglichene Handelsbilanz erwirtschaften zu müssen. Und die Rolle der Wall Street als Zentrum der globalen Finanzströme garantiert den Rückfluss von Kapital: Auch wenn US-Industrien heute nicht mehr weltmarktbeherrschend sin, werden riesige Mengen an spekulativem Kapital in den USA umgeschlagen und angeeignet.

Das Problem ist allerdings, dass sich diese Vormachtstellung zunehmend auf politische und militärische Fähigkeiten stützt. New York stieg zum globalen Finanzzentrum auf, weil die USA dem Welthandel ihre Regeln aufzwang und damit die Umverteilung qua Spekulation erleichterte. Die USA fixieren Patentrechte in internationalen Handelsverträgen, die es ihren Unternehmen erlauben, weltweit mitzuverdienen. Und außerdem ist da schließlich auch die militärische Macht: Die USA sind der einzige Staat, der global Investitionssicherheit herzustellen vermag. Da dies den US-Haushalt mit jährlich 600 Milliarden US-Dollar belastet, zeigen die anderen westlichen Industriestaaten bis heute kein Interesse daran, die US-Führung infrage zu stellen.

Das US-Empire ist also ein Hegemoniesystem, in dem sowohl nationale Interessen der USA als auch Interessen des globalen Kapitals berücksichtigt werden. In welchem Verhältnis die Interessen gewichtet werden, muss ständig ausgehandelt werden.

Das Problem ist nun, dass die US-Hegemonie zunehmend weniger ökonomisch fundiert ist und daher immer stärker mit politischen oder militärischen Eingriffen - von der Durchsetzung der Spekulationsökonomie bis hin zur militärischen Präsenz - verteidigt werden muss. Doch über Ausmaß und Geschwindigkeit des US-Niedergangs lässt sich streiten. Giovanni Arrighi hielt in den 1980er Jahren eine japanische Vormachtstellung für ausgemacht, heute reden alle von China. Doch auch dort verläuft der Aufstieg längst nicht so linear, wie es auf den ersten Blick scheint. Solange ein Teil der chinesischen Exporterlöse in Form von Gewinnausschüttungen oder Lizenzen ins Ausland fließt, zögert sich der Niedergang der USA und seiner atlantischen Verbündeten hinaus.

Hinzu kommt, dass China den US-Hegemonieverlust offensichtlich nicht forcieren will. Als die Finanzmärkte 2008 kollabierten, zeigte Peking wenig Interesse daran, das Währungssystem vom Dollar zu emanzipieren. Man fürchtete um Absatzmärkte und um die in Dollar gehaltenen Reserven in Höhe von fast zwei Billionen Dollar. Auch heute ist das Vorgehen Chinas alles andere als eindeutig: Zwar wickelt das Land mittlerweile fast 30 Prozent seines Außenhandels in chinesischen Yuan ab, aber die Dollarreserven sind weiter gestiegen: auf inzwischen vier Billionen Dollar.

Bislang scheinen die Interessen also verschränkt und die Lage erinnert ein wenig an Kautskys »Ultraimperialismus«. Doch wie lange noch? »Es wird viel Blut fließen«, prophezeite der britische Historiker Eric Hobsbawm vor seinem Tod düster. Und das ist auch der Grund, warum die Verwirrung der Linken teilweise begründet ist. Einerseits wird das neoliberale Projekt, das die Bereicherung der Eliten sicher stellt, nämlich tatsächlich vom US-Staat vorangetrieben. Es hat also nichts mit Antiamerikanismus zu tun, wenn man feststellt, dass sich emanzipatorischen Politik gegen die Führungsmacht USA richten muss.

Andererseits aber führt jeder Versuch, sich auf antiimperialistische Gegenspieler zu beziehen, geradewegs in die Hölle - und zwar nicht nur, weil die »Schurkenstaaten« die Regierungen haben, die sie haben: Putin, Mullahs, die nordkoreanische Kim-Dynastie. Nein, die nationalstaatliche Perspektive als solche birgt ein Problem. In Europa sowieso: Eine Politik gegen Washington, wie sie von russischen, aber auch französischen Rechten propagiert wird, würde zur Rückkehr imperialistischer Konkurrenz führen.

Doch auch in Staaten der Peripherie ist der Nationalstaat ein schlechter Verbündeter. Es stimmt zwar, dass nationale Souveränität dort mit einer progressiveren Sozialpolitik einhergehen kann. In Venezuela beispielsweise sorgte der Linksnationalismus der Regierung für höhere Öleinnahmen des Staates, mit denen Sozialprogramme finanziert wurden.

Aber auch dort haben nicht in erster Linie die Armen, sondern die Führungsgruppen im und beim Staat profitiert: Militärs, Bürokratie, regierungsnahe Bau- und Importunternehmer. Der lateinamerikanische Antiimperialismus hat (wie schon in den 1970er Jahren) neue Eliten hervorgebracht, die sich nun nicht mehr auf dem Markt, sondern direkt über den Staat bereichern. Sogenannte Korruption als Akkumulationsform.

Es hilft nichts: Für die Emanzipation »der Vielen« gibt es keinen anderen Weg, als die Hegemonieverhältnisse innerhalb der Gesellschaften und grenzüberschreitend zu verschieben. Der globale Kapitalismus lässt sich ohne die Macht einzelner Staaten nicht verstehen - weswegen auch der Imperialismus keineswegs Geschichte ist. Doch wer umgekehrt meint, über die Verteidigung nationaler Souveränität ließe sich der Imperialismus besiegen, liegt ebenso falsch.

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