Spiel auf Zeit
Kabinett verabschiedet weiteren Gesetzentwurf: Pflegereform schleppt sich dahin
Menschen mit Demenz brauchen Betreuung und Hilfe im Alltag - nach 20 Jahren Diskussion ist diese Tatsache nun endlich in Gesetzesform gegossen. Die Bundesregierung beschloss gestern das entsprechende Zweite Pflegestärkungsgesetz (PSG II). Es soll 2016 in Kraft treten, das neue Begutachtungsverfahren mit nunmehr fünf Pflegegraden statt bisher drei Pflegestufen soll allerdings erst Anfang 2017 wirksam werden.
Die künftigen fünf Pflegegrade ergeben sich aus Bewertungen der Mobilität, der kognitiven und kommunikativen Fähigkeiten sowie der »Verhaltensweisen und psychischen Problemlagen« bei den Menschen, die einen Antrag auf Leistungen aus der Pflegeversicherung stellen. Hinzu kommen Einschätzungen zur Selbstversorgung, zum Umgang mit Anforderungen aus Krankheiten und Therapien sowie zu den Fähigkeiten, Alltagsleben und soziale Kontakte zu gestalten. An dieser Liste ist zu erkennen, dass sich Pflegebedürftigkeit nun tatsächlich nicht mehr nur an körperlichen Gebrechen und Einschränkungen orientieren muss. Das Gesundheitsministerium verweist auf zusätzlich 500 000 Anspruchsberechtigte in den kommenden Jahren, die vor allem mit der früh einsetzenden Unterstützung des neuen Pflegegrades 1 rechnen können - die hier vorgesehenen 125 Euro monatlich dienen aber eher der Beratung oder sollen für Leistungen der allgemeinen Betreuung reichen.
Ein positives Signal gibt es bei der Einstufung in höhere Pflegegrade - hier bleibt der Eigenanteil in Zukunft konstant und steigt nicht mit. 2017 soll der pflegebedingte Eigenanteil im Bundesdurchschnitt bei 580 Euro liegen. Hinzu kommen aber Kosten für Verpflegung, Unterkunft und Investitionen in den Pflegeheimen. Das ist Anlass zur Befürchtung, dass der Eigenanteil in der Bundesrepublik weiter zu den höchsten in den OECD-Staaten gehören wird. Dieses fortbestehende Teilleistungsprinzip kritisieren unter anderem Sozialverbände und die LINKE.
Die Überleitung in das neue System soll nach dem Gesetz automatisch vonstatten gehen. Bisherige Leistungen werden mindestens in gleicher Höhe weiter gezahlt, die »allermeisten« Betroffenen erhielten sogar »deutlich« mehr. Schlechter sieht es für diejenigen aus, die erst pflegebedürftig werden. Ihnen könnten nach dem neuen System unter Umständen geringere Leistungen zugesprochen werden als nach heutiger Beurteilung. Für Menschen ohne Pflegestufe könnte sich deshalb eine Einstufung noch vor 2017 lohnen.
Die Reaktionen auf das Gesetzesvorhaben reichen von verhaltener Zustimmung bis zu fortgesetzter Kritik. Die Richtung stimme, aber weitere Reformen seien notwendig, so vor allem die Krankenkassen. Schon für die Umsetzung des jetzigen Reformschrittes gibt es wenig Glauben an ein beschleunigtes Tempo: »So wird die Versorgung von Menschen mit Demenz in zehn bis 15 Jahren sicher anders aussehen als heute«, erklärte etwa Franz Knieps vom Dachverband der Betriebskrankenkassen (BKK).
Die Kritik richtet sich vor allem auf die weiter ungeklärte Personalsituation in der Pflege. Der Sozialverband SoVD verweist auf 152 000 fehlende professionelle Pflegekräfte in der Zukunft, auf die schlechte Bezahlung und die konstante Überlastung der Pflegekräfte. Zwar steigt ab Januar 2017 erneut der Betragssatz der Pflegeversicherung um 0,2 Prozentpunkte. Das bringt 2,5 Milliarden Euro zusätzliche Einnahmen für die Pflegekassen, aber allein die Überleitung vom alten ins neue System wird wegen des Bestandsschutzes vier Milliarden Euro kosten, verteilt auf mehrere Jahre. Es ist absehbar, dass die Mittel nicht ausreichen werden - entsprechend inkonsequent bleiben die Vorschläge zur dringend nötigen Einführung der Personalbemessung. Allein die Entwicklung und Erprobung entsprechender Verfahren sollen bis 2020 dauern.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.