Großes Ding für kleines Geld
Am Samstag kehrt der SV Darmstadt 98 in die erste Fußball-Bundesliga zurück - nach 33 Jahren und mit einem DDR-Nationalspieler als Trainer
Einen wirklichen Überblick über die Zahl der gegebenen Interviews hat Tom Lucka nicht mehr. Der mit Abstand jüngste Pressesprecher der Bundesliga will Vermutungen aber nicht vehement widersprechen, dass es fast schon zum Klassenerhalt reichen könnte, bekäme der SV Darmstadt 98 für jede Frage-Antwort-Runde mit Dirk Schuster einen Zähler gutgeschrieben. Der Trainer ist der gefragteste Gesprächspartner bei den Südhessen, auch wenn der Bezahlsender Sky in der Stadt gerade Flyer verteilen lässt, auf denen das bärtige Stürmer-Unikum Marco Sailer abgebildet ist. Das Potenzial zum Publikumsliebling und Zeitzeugen eines Fußball-Wunders besitzen beide.
»Ob beim Etat, bei den Marktwerten der Spieler, bei der Kapazität des Stadions oder der Zahl der Trainingsplätze: Man wird uns in jeder Tabelle immer auf dem letzten Platz finden«, stellt Schuster gerne fest. Der Fußballlehrer mit Wurzeln in Karl-Marx-Stadt heuerte im Dezember 2012 bei den »Lilien« an - da war der darbende Traditionsklub gerade Letzter der Dritten Liga. Dass es danach steil bergauf ging, muss also auch mit ihm zu tun haben, obwohl der 47-Jährige natürlich klug genug ist, alle Komplimente auf jene kleine, schlagkräftige Einheit umzuverteilen, die die Auferstehung am maroden Böllenfalltor erst möglich gemacht hat. »Ganz wenige Leute machen hier ganz viel Arbeit«, betont Schuster. Mit Leidenschaft und Herz. Und: »Niemand schaut auf die Uhr.« Schuster dient als das beste Beispiel. Mit den Trainingseinheiten, die Außenstehende als äußerst anspruchsvoll und extrem intensiv beschreiben, ist sein Tagwerk längst nicht getan. Mindestens zur Hälfte erfüllt der Tausendsassa auch noch Manageraufgaben. Beschäftigen andere Klubs ganze Scouting-Abteilungen, um die unzähligen Angebote der Spielerberater zu sichten, landen diese in Darmstadt direkt beim Trainerstab.
Torwarttrainer Dimo Wache hat für diese Arbeit zwar eine neue Software, doch der bestens vernetzte Schuster verlässt sich lieber auf die Ratschläge ehemaliger Mitspieler, Trainer oder Freunde. Als Scouts fungieren sein Vater, der ehemalige DDR-Meistertrainer Eberhard Schuster, und Ex-Bundesligatrainer Horst Franz, der Vater seines Assistenten Sascha Franz. Ganz bewusst wurde nur auf dem deutschen Markt nach Spielern gesucht. Die Devise: »Unsere Spieler müssen von der ersten Minute an funktionieren.« Längere Eingewöhnungszeit ist nicht möglich an einem limitierten Standort, der aus minimalen Mitteln (15 Millionen Euro Lizenzspielerbudget) das Maximum machen will. Luca Caldirola (Werder Bremen), Junior Diaz (FSV Mainz), Mario Vrancic (SC Paderborn), Konstatin Rausch (Hannover 96), Peter Niemeyer und Sandro Wagner (beide Hertha BSC) heißen diejenigen, die nach einem Karriereknick für kleines Geld ein großes Ding drehen sollen: den Klassenerhalt mit dem »krassesten Außenseiter der Bundesliga-Geschichte« (Schuster). 33 Jahre lang war der SV Darmstadt 98 nicht mehr in der Bundesliga. Die Rückkehr besitzt allein wegen der gegenüber damals fast unveränderten Spielstätte romantische Züge, aber der Slogan »Aus Tradition anders« bedeutet nicht, dass der Standort das gängige Leistungsprinzip außer Kraft setzt. Eine Schonzeit für die Aufstiegshelden besteht nicht - schon im ersten Heimspiel gegen Hannover 96 könnte die Hälfte der Startelf aus Neuzugängen bestehen.
»Jeder hat es selbst in der Hand, ob er auf dem Rasen steht, auf der Bank oder auf der Tribüne sitzt«, erklärt Schuster. Wie man sich nach oben kämpft, hat der einst beinharte Verteidiger in aktiven Zeiten vorgemacht. Gern erzählt er dazu die Geschichte, wie er nach dem Mauerfall als Spieler des 1. FC Magdeburg auf Einladung von Borussia Mönchengladbach am altehrwürdigen Bökelberg sein erstes Bundesligaspiel live verfolgen durfte. Aus dem Wechsel wurde nichts, aber Schuster war von der Atmosphäre beeindruckt: »Das will ich auch erleben.«
Der DDR-Nationalspieler ging den Weg über Eintracht Braunschweig und die zweite Liga, ehe ihn Winnie Schäfer nach weiteren Wirren für die Mission beim Karlsruher SC gewann. Jedes Detail von damals hat Schuster abgespeichert und seine Augen leuchten, wenn er von seinem ersten Bundesligaspiel 1991 im Wildparkstadion erzählt. Volles Haus. 2:2 gegen Borussia Dortmund. »Solch einschneidende Momente bleiben haften.« Wäre das eigentlich ein passendes Resultat für sein erstes Bundesligaspiel als Trainer? Ganz gewiss. Schuster: »Alles ist gut für uns, wenn wir punkten. Nur zu Null wäre mir lieber.«
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