Wer fliehen will, muss fliehen können
Florian Westphal über die Notwendigkeit legaler Fluchtwege nach Europa und die Verantwortung der EU-Politik
Angesichts der täglichen Meldungen über die inakzeptablen Bedingungen für Menschen auf der Flucht nach Europa und über den Balkan gerät die jüngste Katastrophe auf dem Mittelmeer fast schon wieder in Vergessenheit. Am 5. August kenterte ein Holzboot mit geschätzten 600 Flüchtlingen an Bord vor der libyschen Küste. Unser Rettungsschiff »Dignity I« erreichte den Unglücksort kurz nach dem Kentern, das Team konnte aber fast nur noch Tote bergen. Etwa 200 Menschen starben bei dem Unglück auf dem Weg von Afrikas Küste zum rettenden italienischen Ufer.
Das Mittelmeer erstreckt sich über 2,5 Millionen Quadratkilometer - und ist derzeit die Migrationsroute mit den meisten Todesopfern weltweit. Seit Anfang Mai kreuzen Teams von uns auf mittlerweile drei Rettungsschiffen zwischen Libyen und Europa. Auf den griechischen Inseln und auf Sizilien bieten wir medizinische Hilfe für diejenigen, die es über das Mittelmeer geschafft haben.
Anfang Juni war ich selbst auf Sizilien. Was ich dort gesehen und gehört habe, hat mich tief bewegt. Ich habe mit Menschen gesprochen, die eine unvorstellbare Reise hinter sich haben. Immer mehr Menschen versuchen, das Mittelmeer zu überqueren und riskieren ihr Leben auf hoher See, weil es an sicheren und legalen Wegen nach Europa fehlt - in diesem Jahr sind es laut dem UN-Hochkommissariat für Flüchtlinge (UNHCR) bereits mehr als 130 000.
Einer von ihnen ist der 18-jährige Mohammed. Bis vor Kurzem hatte er nur Fußball im Kopf und war der jüngste Spieler in der syrischen Jugendnationalmannschaft. Alles änderte sich für ihn an dem Tag, als eine Bombe während eines Spiels auf dem Fußballfeld explodierte und einen seiner Mitspieler tötete. Mit seinem Vater und Onkel floh er über das Mittelmeer nach Europa - auf einem alten Boot, auf dem sie mit hunderten Syrern für Tage eingepfercht waren. Nach allen Strapazen sind sie im Aufnahmezentrum in Pozallo auf Sizilien angekommen. Und Mohammed gibt seinen Traum nicht auf. »Ich hoffe, die europäischen Fußballvereine lesen meine Geschichte. Ich möchte in Deutschland für Borussia Dortmund spielen oder in Spanien für Real Madrid«, erzählte er meinen Kollegen, die die ankommenden Flüchtlinge medizinisch versorgen.
Viele schaffen es aber nicht und sterben im Mittelmeer - im vergangenen Jahr waren es mehr als 3500 Kinder, Frauen und Männer, in den ersten Monaten dieses Jahres sollen es bereits mehr als 2000 sein. Das Mittelmeer ist die gefährlichste Fluchtroute der Welt. Es ist ein Massengrab geworden und wir können nicht weiter zuschauen.
Nach der Einstellung der italienischen Marineoperation Mare Nostrum Ende 2014 gab es keine adäquate Seenotrettung auf dem Mittelmeer mehr. Deshalb hat Ärzte ohne Grenzen Anfang Mai einen Rettungseinsatz gestartet. Mittlerweile haben wir bereits mehr als 10 000 Menschen aus Seenot gerettet. Meine Kollegen an Bord der drei Schiffe leisten medizinische Hilfe und verteilen Hilfsgüter an die Geretteten. Oft sind die Menschen dehydriert und traumatisiert, haben schwere Hautverbrennungen und -verätzungen oder Verletzungen aufgrund von Gewalt auf der Flucht.
Menschen, die fliehen wollen, müssen fliehen können. Das heißt: Die EU muss ihre derzeitige Politik drastisch ändern. Die europäischen Staaten zeigen vereinten politischen Willen darin, Schleuser zu bekämpfen und Boote zu versenken, statt sich auf die Menschen in den Booten zu konzentrieren. Es müssen aber zuerst einmal diese Menschen sein, denen wir alle unsere volle Aufmerksamkeit widmen sollten - und das unabhängig vom Grund ihrer Flucht.
Wir fordern von der Bundesregierung und der Europäischen Union: Erstens, die Such- und Rettungsaktionen im Mittelmeer zu gewährleisten und fortzusetzen, solange sie gebraucht werden - insbesondere nahe der Küste Libyens. Zweitens, für Menschen auf der Flucht sichere und legale Wege in die EU zu schaffen. Und drittens angemessene Versorgung und Unterbringung für die Ankommenden an Europas Außengrenzen zu gewährleisten. Die Aufnahmebedingungen etwa in Kos sind derzeit katastrophal und die griechischen Behörden mit dem Zustrom von Flüchtenden überfordert.
Wir werden nicht aufhören, die Regierungen weiter in die Pflicht zu nehmen, während unsere Kollegen in diesen Minuten auf unseren Schiffen im Mittelmeer die Menschen suchen und retten, die dringend unsere Hilfe brauchen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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