Der Prinz von Seoul

  • Andreas Gläser
  • Lesedauer: 2 Min.

Bevor sich meine digitalen Foto-Dateien ins Nirwana verabschieden, werde ich sie per Papier in klassischen Alben verewigen, wie es mir meine Ahnen vorlebten; denn wenn mir ein Stick in der Größe einer Kaugummipackung verloren geht, stehe ich nahezu ausgebrannt da. Eine Vorahnung lassen einige CDs erkennen, die zunehmend vor sich hinzirpen.

Derzeit bin ich mit der Aufarbeitung meiner Reisen der Nachwendezeit beschäftigt, mit dem dritten von mindestens vier Alben; beginnend mit Malta 1993, bastele ich an Südkorea 2009 und werde zu Silvester mit Kroatien 2015 abschließen. Davon träume ich. Diese Fotosammlung aufzuarbeiten, gestaltet sich zunehmend umfangreicher, da ich seit Malta 2007 einen vernünftigen Knipser besitze und die Anzahl der Treffer steigt. Verknipste ich in den Neunzigern zwei 36er-Filme und war froh, wenn 20 Fotos gelungen waren, kommen heute auf 111 Schüsse 99 Treffer.

Jedenfalls wurde ich zum 20. Jahrestag des Mauerfalls nach Seoul eingeladen, weil die dortigen Kulturveranstalter mich aufgrund meines Buchstabenträgers »Der BFC war schuld am Mauerbau« für geeignet hielten, dieses Jubiläum zu feiern. Sie wollten keine Jammerveranstaltung. Ich durfte mich für eine Woche als Prinz von Seoul fühlen, wurde allerdings nicht zum König befördert, da ich in einer Geschichte einräumte, dass es unter DDR-Jugendlichen durchaus Liebe gab. Die deutschen Studenten dort amüsierten sich darüber, weil sich die Koreaner so pikierten.

Außerdem äußerte der sympathisch angetrunkene Chef eines einheimischen Literaturvereins inmitten meiner Erinnerungen, die in einem saftig-grünen Park nahe der Mauer spielten, seinen Verdacht, dass ich das totalitäre DDR-System verharmlose. Ich fand sein Gelalle normal, doch der Moderatorin drohten die Augäpfel herauszuflippen. Zwei dufte Veranstaltungen hatte ich geschmissen, doch auf die zwischenzeitlich in Aussicht gestellten Übersetzungen meiner Bücher ins Koreanische mit anschließender dreimonatiger Tournee wollte niemand mehr angesprochen werden. Deshalb ordne ich im Album die vielen Visitenkarten nur kreuz und quer als Lückenfüller ein, zwischen den kryptischen Restaurantrechnungen und den exotischen Fotos.

Egal, das nächste Kapitel heißt Schottland 2010. Ein Fußballtrip ohne Kunst, Klamauk ohne Nachwehen. Irgendwann 2016 starte ich die Aufarbeitung der familiären Fotosammlung. Die ersten blassen Zeugnisse von vor 100 Jahren werden auf vier Seiten passen. Ab den Sechzigern lässt sich aus dem Volleren schöpfen. In den Achtzigern war ich ein hässlicher Pubertierender, deshalb wird es dort eine Lücke geben; in den Neunzigern knipsten meine Tanten aller Bundesländer viele Kaffeeklatschfotos, davon fliegen mindestens 77 Prozent über den Jordan.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
- Anzeige -

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.