Der Wirtschaft fehlt Gerechtigkeit
Studie: Soziale Ungleichheit zugleich ökonomisches Problem
Soziale Ungerechtigkeit ist für Gesellschaften nicht nur ein ethisches Problem, sondern schadet der Wirtschaft. Diese Erkenntnis ist relativ neu; erst in den vergangenen Jahren nahm die Debatte zu Inclusive Growth (inklusives Wachstum) Fahrt auf. Studien etwa der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) ergaben, dass Gleichheit und wirtschaftliche Stärke sich gegenseitig bedingen.
Aussagen, die besonders in Deutschland die Politik aufrütteln müssten: Hierzulande ist die Ungleichverteilung etwa der Vermögen und Einkommen besonders ausgeprägt. So besitzen laut einer Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung 0,1 Prozent der Deutschen über 17 Prozent des Reichtums, die ärmsten 50 Prozent dagegen zusammen nur 2,5 Prozent.
Inzwischen hat sich auch das Weltwirtschaftsforum (WEF) der Debatte angeschlossen: 112 Staaten verglich die Stiftung daraufhin, wie sie soziale Gerechtigkeit und wirtschaftliches Wachstum gleichzeitig förderten. Am Montag wurde ein erster Bericht vorgestellt. Das WEF versteht die Studie als Handreichung für die Eliten: »Indem Politiker, Unternehmensführer und andere Akteure eine genauere Vorstellung davon bekommen, in welchem Maße ihr Land den vorhandenen politischen Spielraum und die bewährten Praktiken im Vergleich zu ebenbürtigen Ländern« nutze, solle eine Diskussion über Ungleichheiten angeregt werden, sagte WEF-Vorstand Richard Samans.
Davon gibt es genug: In allen untersuchten Ländern müsste demnach mehr für den Abbau sozialer Ungerechtigkeiten getan werden, keins liege in allen 15 bewerteten Bereichen über dem Durchschnitt. Für eine bessere Vergleichbarkeit wurden die Staaten nach Wirtschaftskraft in vier Gruppen eingeteilt. Untersucht wurden das Steuer- und Finanzsystem, Bildungsmöglichkeiten, der Arbeits- und der Mietmarkt, die Vermögenssituation, die Infrastruktur und das Ausmaß an Korruption.
Deutschland liegt im Mittelfeld der Gruppe 1, in der die 30 am höchsten entwickelten Industriestaaten zusammengefasst sind. Bei Steuern und Abgaben kommt die Bundesrepublik gar nur auf Rang 27 von 30. Zu hoch sei die Belastung besonders der unteren Einkommen, so das WEF. Auch die Verkehrs-, digitale und Gesundheitsinfrastruktur sei ausbaufähig.
Schwachstellen gibt es zudem auf dem Arbeitsmarkt: Der Niedriglohnsektor sei groß, es fehle an Kinderbetreuungsmöglichkeiten. Die Studie bestätigt auch die seit Jahren von der OECD kritisierte Selektion im deutschen Bildungssystem: Der Zugang hängt in hohem Maß von der sozialen Schicht ab, in die jemand hineingeboren wurde. Zu Wohlstand und gerechter Verteilung trägt das Bildungssystem aus Sicht des WEF trotz langer Schulpflicht und guter Ausbildungsstandards denn auch kaum bei.
In der Gruppe der Industrieländer ganz vorn liegen Dänemark, Norwegen und Finnland, aber auch Kanada und Australien. Den USA, Frankreich und den südosteuropäischen Ländern Griechenland, Italien, Portugal, Tschechien, Slowakei und Spanien gelingt es dagegen am schlechtesten, Wachstum und gerechte Verteilung unter einen Hut zu bringen.
Wer nun denkt, die wirtschaftlich schwächeren Länder in den anderen drei Gruppen schnitten grundsätzlich schlechter ab als die hoch entwickelten Industrieländer, irrt sich. Besonders in den »weichen« Bereichen, wie politischer und Geschäftsethik, der Eingliederung der Bürger ins Finanzsystem sowie Bildungsqualität und Gerechtigkeit könnten sich einige Entwicklungsländer durchaus mit den einkommensstärkeren Staaten messen, heißt es in der WEF-Mitteilung.
»Der am besten geeignete Ansatz für die jeweiligen Länder hängt von ihren spezifischen Gegebenheiten ab«, fasste Jennifer Blanke, WEF-Chefökonomin die Ergebnisse zusammen. Grundsätzlich kommt das WEF zu dem Schluss, dass es möglich und sogar notwendig sei, »sich gleichzeitig für Arbeitnehmer und Unternehmer, sowie für Wachstum und zugleich Gerechtigkeit einzusetzen«. Ob der Wink mit dem Zaunpfahl von den Ländern verstanden wird, zeigt sich vielleicht schon in der Nachfolgestudie.
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