Klima der Hysterie in der Türkei
Die Armee schlägt sich mit der PKK, Ultranationalisten zerstören Büros einer legalen Partei
Vor einigen Tagen wurde ein bis zur Bewusstlosigkeit geschlagener Mann mit mehreren Knochenbrüchen in ein Krankenhaus in Kayseri, einer Großstadt in der Zentraltürkei, gebracht. Die Polizei hatte ihn mit Mühe vor einem aufgebrachten Mob gerettet. Die Leute wollten ihn lynchen, nachdem ihn jemand im Streit als Anhänger der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) bezeichnet hatte. Der Angegriffene hatte vergeblich versucht, seine Papiere zu zeigen, die ihn als Leutnant der türkischen Luftwaffe auswiesen.
Immer wenn aus dem Osten Nachrichten über von der PKK getötete Polizisten oder Soldaten kommen, treten die selbst ernannten Rächer mit Rufen wie »Zahn um Zahn, Blut um Blut! Rache! Rache!« auf. Manchmal machen sie dabei auch mit der Hand das Zeichen der »Grauen Wölfe«, die in der Partei der Nationalistischen Bewegung ihre Heimat haben.
Die prokurdische Gruppierung Demokratische Partei der Völker (HDP), viertstärkste Parlamentspartei, beklagte am Mittwoch bereits 126 Angriffe auf Gebäude, in denen die Partei Räume besitzt. Aber auch Personen und Gruppen, die irgendwie in Zusammenhang mit der PKK zu bringen sind, werden attackiert, selbst wenn der Beweis dafür nur ein falscher Zuruf ist, wie im Falle des Piloten. Ebenfalls im religiös-konservativen Kayseri warf der Mob sogar Steine in die Frontscheiben von Überlandbussen, die nach Diyarbakir unterwegs waren, der kurdischen Metropole in der Südosttürkei. Nach Angaben eines Busfahrers begünstigte die Polizei die Steinewerfer.
Findet der Mob mal keine Kurden, so kann es schon mal geschehen, dass er »chinesisch« aussehende Touristen angreift. Man vermutet in ihnen Vertreter der uigurischen Minderheit in Nordwestchina, in denen man im Sinne des Separatismus Unterstützer der Kurden vermutet. Doch nicht nur die Ultranationalisten inszenieren Krawalle. Am Dienstag verwüsteten Demonstranten, die von einem Abgeordneten der Regierungspartei angeführt wurden, Räumlichkeiten der Istanbuler Zeitung »Hürriyet«.
Das ist die eine Seite. Auf der anderen Seite verstärkt die PKK ihre Angriffe auf Armee und Polizei. Am Sonntag starben 16 Soldaten bei einem Sprengstoffanschlag auf ein Militärfahrzeug und einem folgenden Gefecht, zwischen der türkischen Armee und PKK-Kämpfern. Später wurde verbreitet, es sei der verlustreichste Anschlag auf die türkische Armee seit 1993 gewesen. Das ist objektiv falsch, aber offenbar hat irgend jemand Interesse daran, mit solchen Nachrichten die Spannungen zu verschärfen.
Zwei Tage später tötete eine Bombe der PKK 14 Polizisten in einem Bus. Dazwischen gab es zahlreiche weitere Gefechte, teilweise mit Toten und Verletzten auf beiden Seiten.
In der Verfolgung der PKK-Kämpfer, die an dem Gefecht am Sonntag teilgenommen hatten, überschritten zwei türkische Bataillone auch kurzzeitig die Grenze zu Irak, wo die PKK Stützpunkte hat und wohin sie sich nach solchen Anschlägen häufig zurückzieht. Zwar fliegt die türkische Luftwaffe seit Juli Angriffe auf PKK-Stellungen in Irakisch-Kurdistan, doch Grenzüberschreitungen durch Bodentruppen hatte es seit vielen Jahren nicht mehr gegeben.
Ein großer Teil der Opposition wirft Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan vor, mit der Eskalation Wahlkampf zu betreiben. Der Friedensprozess mit der PKK ist zwar nie wirklich vorangegangen, doch es gab nicht unbedingt einen Grund, ihn in dieser Weise abzubrechen. Es ist ein durchsichtiges Spiel, wenn für die Toten in den Reihen der Sicherheitskräfte eine legale Partei, die HDP, verantwortlich gemacht wird, die die PKK immer wieder zum Waffenstillstand aufgerufen hat. Auch dass die Wut auf die PKK an kritischen, aber keineswegs PKK-nahen Medien wie »Hürriyet« ausgelassen wird, spricht für die Funktionalisierung des Zorns.
Das beantwortet noch nicht die Frage, warum die PKK bei der Eskalation in dieser Weise mitspielt. Meinungsforscher sind sich einig, dass die HDP bei den Neuwahlen am 1. November ihren Wahlerfolg vom Juni halten oder sogar ausbauen kann. Noch nie standen die Chancen für die Kurden so gut, die kurdische Frage mit demokratischen Mitteln zu lösen. Dass dies türkische Nationalisten nervös macht, ist keine Frage.
Aber macht es vielleicht auch die PKK nervös?
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