Labours stille demokratische Revolution
Die Anwürfe des früheren Parteichefs und Premiers Blair haben Jeremy Corbyn nicht geschadet, im Gegenteil
Sie hatten alles versucht. Sie hatten gemahnt, getrickst und gedroht. Sollte der linke Abgeordnete Jeremy Corbyn, 66, die Wahl zum Parteivorsitzenden gewinnen, dann sei die altehrwürdige Labour-Partei am Ende. Dann drohe der Partei die Spaltung wie Anfang der 80er Jahre, als die Parteilinke über Einfluss verfügte. Dann würde sie bei der nächsten Unterhauswahl 2020 noch schlechter abschneiden als im Mai.
Doch die Drohungen des Partei-Establishments haben nichts genützt: Am Samstag gab Labour das Ergebnis der Urwahl bekannt, an der sich knapp eine halbe Million Mitglieder und Sympathisanten beteiligt hatten. Corbyn gewann 59,5 Prozent der Stimmen; Schattengesundheitsminister Andy Burnham, lange Zeit als Favorit gehandelt, kam als zweitplatzierter Kandidat auf 19 Prozent. Die Labour-Partei hat jetzt einen der radikalsten Vorsitzenden ihrer Geschichte.
Was hatte das Parteiestablishment nicht alles über Corbyn gesagt? Seine wirtschaftspolitischen Vorstellungen würden das Land in den Ruin treiben. Seine Pläne zur Wiederverstaatlichung der Bahn und der Stromindustrie seien Hirngespinste. Seine Antiausteritätspolitik könne sich der britische Staat nicht leisten. Seine Kritik an der Modernisierung der Atom-U-Boot-Flotte mache ihn zu einem Sicherheitsrisiko.
Die rechten Medien setzen noch eins drauf. Die einen rückten Corbyn in die Nähe von Osama bin Laden, machten aus ihm, dem Mitglied der Palästina-Solidarität, einen Hamas-Freund (weil er im israelisch-palästinensischen Konflikt für Gespräche mit allen Seiten plädiert) und warfen ihm vor, mit muslimischen Militanten auf einem Podium gesessen zu haben - was im Laufe von Corbyns langer Karriere durchaus mal der Fall gewesen sein kann. Andere sehen in dem Abgeordneten, der seit 1983 ununterbrochen das Unterhausmandat von Islington North in Südostengland gewonnen hat, einen Befürworter des gewaltsamen irischen Befreiungskampfes. Indes war er auch hier früher als andere für eine Verhandlungslösung eingetreten.
All die Attacken haben Corbyn nicht geschadet, im Gegenteil. Die Anwürfe der früheren Labourvorsitzenden Tony Blair und Gordon Brown bestärkten nur die KritikerInnen von New Labour, die zu Blairs Amtszeit scharenweise die Partei verlassen hatten - und plötzlich zurückgekehrt sind. Und die Jugendlichen, die in Corbyns Veranstaltungen geströmt waren, interessierte das ohnehin nicht. Für sie kam es darauf an, dass da einer gerade heraus das sagte, wofür und wogegen er steht: Für eine gerechtere Gesellschaft. Für Solidarität, auch mit den Flüchtlingen. Für eine konsequente Umwelt- und Klimapolitik. Gegen Fracking, gegen das Freihandelsabkommen, gegen die Bombardierung Syriens. Und dass da einer nicht seine Person in den Mittelpunkt stellte, sondern die Bewegung. »Egal, was am 12. September herauskommt - wir alle haben bereits die Politik der Partei verändert«, sagte Corbyn immer wieder.
Die Basisbewegung, die sich da plötzlich entfaltet hat, ist das britische Pendant zu Griechenlands SYRIZA und Spaniens Podemos. Über 50 000 Leute füllten während des dreimonatigen Wahlkampfs Corbyns 99 Versammlungen. 16 000 Freiwillige engagierten sich für ihn. Und die Zahl der Parteimitglieder verdoppelte sich innerhalb eines Vierteljahrs auf über 440 000. Seit Jahrzehnten war das Interesse an Debatten über die Zukunft der Linken seit nicht mehr so groß.
Das Ergebnis überraschte dennoch. Zwar deuteten seit längerem schon Umfragen auf einen Sieg des Rebellen hin, der es erst in allerletzten Minute auf die Kandidatenliste geschafft hatte. Dass er aber gleich bei der ersten Auszählung der Stimmen die absolute Mehrheit erreichte, war mehr als eine Klatsche für die Parteielite. Das war ein Umsturz der parteiinternen Machtverhältnisse, Ausdruck einer stillen Revolution.
Aber kann das gut gehen? Corbyn ist zwar mit einem massiven Mandat ausgestattet, steht aber in der Parteiführung fast allein. Zwanzig Labour-Abgeordnete unterstützen ihn; aus den Reihen der übrigen 212 schlägt ihm offene Feindseligkeit entgegen. Mancher sprach schon von einem Putsch, der nötig wäre, falls Corbyn gewinnt.
Er habe kein fertiges Programm in der Tasche, sondern formuliere nur Vorschläge, hatte Corbyn während des Wahlkampfs immer wieder betont; man werde vieles gemeinsam debattieren und klären müssen. Die Frage ist jedoch, wer dazu bereit ist. Die meisten Mitglieder des Labour-Schattenkabinetts haben bereits erklärt, dass sie nicht weiter zur Verfügung stehen werden - es gibt viele Möglichkeiten, einen neuen Chef auflaufen zu lassen.
Ob Corbyn eine Chance hat, den Führungswechsel in einen Politikwechsel umzusetzen, hängt stark davon ab, ob die Bewegung anhält, die ihn ins Amt beförderte. Viele Basisinitiativen wollen auch künftig mitmischen. Vielleicht gelingt es ihnen auf dem Parteitag Ende des Monats sogar, das durchzusetzen, was einige Abgeordnete am meisten fürchten: Dass sich auch etablierte Politiker vor jeder Unterhauswahl einer parteiinternen Wahl stellen müssen, die von den Mitgliedern der Partei im Wahlkreis entschieden wird.
Wie sehr sich Labour geändert hat, zeigte sich schon am Freitag, als die Partei in London den linken Menschenrechtsanwalt Sadiq Khan zum Bürgermeisterkandidaten nominierte. Auch hier hatten die Mitglieder in einer Urwahl entschieden, und den Sohn pakistanischer Einwanderer der Kandidatin der Parteispitze - der früheren Ministerin Tessa Jowell - vorgezogen. Khans Chancen, 2016 an die Stelle von Londons Oberbürgermeister Boris Johnson zu rücken, stehen gut.
Und was tat Corbyn am Samstagnachmittag, drei Stunden nach Bekanntgabe seines Wahlsiegs? Er war bereits auf der nächsten Demonstration, wo ihn Zehntausende feierten - weil er die konservative Regierung von David Cameron aufforderte, die Grenzen für Flüchtlinge zu öffnen.
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